Langfristiges Ziel kurzfristig erreicht

Auf der Liste der Straßennamen mit Bezügen zum Kolonialismus in Berlin steht, den frauentag_kofbinger_kahlefeld_neukoellnBezirk Neukölln betreffend, der Name Wissmann ganz weit oben. Anlässlich des Internationalen Frauentages benannten die Neuköllner Grüne-Politikerinnen Anja Kofbinger (l.) und Dr. Susanna Kahlefeld (M.) deshalb vorgestern die Wissmannstraße, die u. a. zur Werkstatt der Kulturen führt, symbolisch für eine Viertelstunde um. „Wir wollen die Aufklärung und Diskussion über die Wissmannstraße wieder in Gang bringen“, sagte Kahlefeld. In Neukölln hatte die Werkstatt der Kulturen zuletzt 2006 eine Diskussion begonnen, die ein Jahr später aber erfolglos abgebrochen wurde.

Offiziell ist die Wissmannstraße nach dem preußischen Offizier und Afrikareisenden Hermann von Wissmann benannt, der 1895/66 Gouverneur von Deutsch-Ostafrika war. „Ich denke, dass jetzt ein guter Zeitpunkt ist, um in Neukölln wieder Bewegung in die Diskussion über kolonialbelastete Straßennamen zu bringen: Wissmann war eindeutig ein Kolonialverbrecher“, urteilte die Abgeordnete über den Straßennamen in frauentag umbenennung wissmann charlotte wolff_neukoellnihrem Wahlkreis.

Als Gegenvorschlag brachten sie und ihre Kollegin Anja Kofbinger den Namen Charlotte Wolff ins Ge-spräch. „Charlotte Wolff war keine ‚Engelmacherin'“, sagt Kahlefeld. „Die Schwerpunkte ihrer Arbeit waren die Schwangerenberatung, Familienplanung und Verhütung.“ Anja Kofbinger, Sprecherin für Frauen- und Queerpolitik der Grüne-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, erklärte: „Charlotte Wolff war eine bekannte Ärztin, Sexualwissenschafftlerin und lesbi-sche Jüdin. Sie richtete während der Weimarer Republik in Neukölln die deutschlandweit erste Klinik für Familienplanung, Schwangerschaftsfürsorge und Verhütung ein. Hier im Kiez beriet sie vor allem Frauen der unteren Mittelschicht und Arbeiterinnen, bevor sie 1933 vor den Nazis flüchten musste.“ Für lesbische Frauen herrschten im Berlin der 1920er Jahre fast paradiesische Verhältnisse. Sie konnten beispielsweise in claudia rappold_charlotte wolff_hentrich+hentrichMännerkleidung auf die Straße gehen. Erst Anfang der 1930er Jahre kippte die Stimmung.

Im Frühjahr 1931 wurde Charlotte Wolff nahegelegt, die Schwangerschaftsfürsorge und die Familienpla-nungs-Klinik nicht fortzusetzen. Sie wurde im April 1932 Direktorin des Elektrophysikalischen Instituts in Neukölln. Im Februar 1933 erhielt sie die Kündigung und musste ihren Dienst sofort quittieren. Damals, in den Tagen des erstmals offenen Nazi-Terrors in Berlin, dem auch der Neuköllner Bürgermeister Alfred Scholz zum Opfer fiel, nach dem im April 2014 der frühere Platz der Stadt Hof umbenannt wurde, verhaftete die Gestapo Charlotte Wolff am 2. April 1933 unter dem Vorwand, eine Frau in Männerkleidung und eine Spionin zu sein. Auf der Bahnhofswache erkannte ein Wachmann sie aber als die Ärztin seiner Frau, woraufhin die Medizinerin freigelassen wurde. Nur drei Tage später fand bei ihr eine Hausdurchsuchung statt, weil sie angeblich eine Kommunistin sei. Nach diesem Erlebnis erwarb Charlotte Wolff sehr schnell einen gültigen Pass: Am 23. Mai 1933 gelang ihr schließlich unter äußerster Anspannung die Flucht über Aachen nach Paris; mehr als ein halbes Jahrhundert später starb sie in London.

=Christian Kölling=