Neue Deutsche in Neukölln

Hinter mir sitzen die vermutlich jüngsten Besucher des Abends, zwei Mädels Anfang 20; das Durchschnittsalter der anderen liegt in etwa bei 40 Jahren. Zu meinem Leidwesen fängt die Buchpremiere für „Wir neuen Deutschen“ von Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham mit viertelstündiger Verspätung an. So komme ich in den buchpremiere "wir neuen deutschen", heimathafen neukölln, özlem topcu, alice bota, khue pham, foto: anna sinnlosausgiebigen Genuss zwei- felhafter intellektueller Er- güsse der beiden Jüngs- ten.

Ich hoffe, dass sich solche Gespräche nicht durch den Abend ziehen und habe erstmal Glück: Eine Drei- viertelstunde lang lesen die drei Autorinnen im Saal des Heimathafen Neukölln aus ihrem absolut empfehlenswerten Buch. Alle drei sind Redakteurinnen bei der „Zeit“, alle drei im Bereich Politik, aber um diese geht es eben nicht in ihrem Buch.

Alle drei waren Kinder und sind nun Erwachsene, alle drei um die 30, mit Migrationshintergrund. Keine „echten“ Deutschen, aber auch keine Türken, Polen oder Vietnamesen. Irgendwas dazwischen eben. Und sie erzählen von den Immigrationsversuchen ihrer Eltern, ihren Bemühungen und Wünschen dazu zu gehören und den Vorurteilen der Menschen, in dem Land, in dem sie teilweise auch geboren wurden. Natürlich geht es auch um die Länder, aus denen ihre Eltern stammen. Auf äußerst angenehme Weise sind sie dabei nicht vorwurfs- sondern khue pham, buchpremiere "wir neuen deutschen", heimathafen neukölln, foto: anna sinnlossehr humorvoll.

Absolutes Schweigen herrscht im großen Saal, während die drei lesen. Alle sind mitgerissen von der Ankunft eines 19-jährigen, unterernährten vietnamesischen Mädchens, das in einem Seidenkleid und Sandalen im tiefsten Winter vor den verschlossenen Türen des Münchner Goethe-Institutes steht und zum ersten Mal Schnee sieht. Es ist Sonntag – und alice bota, buchpremiere "wir neuen deutschen", heimathafen neukölln, foto: anna sinnlosniemand wird Khuê Phams Mutter öffnen. Es wird gelacht, weil der polnische Papa von Alice Bota immer noch Wannebade und Kammerspeise sagt und Loriots Sketche auswendig kann. Und weil Özlem özlem topcu, buchpremiere "wir neuen deutschen", heimathafen neukölln, foto: anna sinnlosTopçus türki- sche Mutter vor der Karstadt-Fleischtheke steht und gackert, weil sie das deutsche Wort Hühnchen nicht kennt.

Im Grunde hätte mir der Abend so schon gereicht, weil die drei Autorinnen sehr herzergreifend aus ihrem Buch vorlesen und wohl allen klar wird: Hier wird nicht verurteilt und abgerechnet, sondern hier geht es wirklich um drei Menschen, die den Zusatz „mit Migrationshintergrund“ einfach nicht mehr wollen, weil sie schlicht und einfach Teil unserer Gesellschaft sein wollen. Da die Gesellschaft sie so aber nicht anerkennt, werden sie zu den „neuen Deutschen“ und schaffen sich ihren eigenen Platz, zwischen „Bio- deutschen“ und Migranten.

Ein leider etwas fade wirkender Moderator, der mit der Schlagfertigkeit der Autorinnen nicht annähernd mithalten kann, stellt gezielte Fragen zu den im Buch angesprochenen Themen. Teilweise wirken sie schlicht überflüssig. Da profitiert das Publikum umso mehr von der  Argumentation  und dem  Humor  der drei Frauen.

Am Ende dürfen auch Fragen gestellt werden, das Bedürfnis haben allerdings nur wenige. Ob es in dem Buch auch um Rassismus ginge, will eine Fragenstellerin wissen, die dann so dermaßen selbstherrlich in ihrem eigenen pseudointellektuellen Geschwafel erblüht, dass das Publikum sie unfreundlich ausbremst. Da vermutlich niemand – inklusive der Frau selbst – die Frage verstanden hat, muss diese unbeantwortet bleiben. Meine anfänglichen Befürchtungen bewahrheiten sich also nicht wirklich. Es geht wenig um Rassismus, denn das Anliegen des Buches ist ein anderes. Es geht nicht um Mitleidheischerei, sondern ums Erzählen, ums Auf- buchpremiere "wir neuen deutschen", heimathafen neuköllnmerksammachen und darum eine Brücke zu schlagen.

Und ich finde, Özlem Topçu, Alice Bota und Khuê Pham ist es ausgesprochen gut gelungen auf ihr Thema aufmerksam zu machen. Ich kann nur jedem empfehlen, dieses Buch zu lesen, es sich zu Herzen zu nehmen und selber einmal zu schauen, ob man nicht auch das Gegenüber irgendwie ausgrenzt, weil man betont langsam und deutlich spricht, nur weil die Hautfarbe des anderen so anders ist.

Das beim Rowohlt Verlag erschienene Buch „Wir neuen Deutschen“ hat 176 Seiten und kostet 14,95 €.

=Anna Sinnlos=

Eine Antwort

  1. Ein berührender Beitrag der einlädt, sich dieses Buch zu kaufen. Vielen Dank der Autorin für das atmosphärisch dichte Beschreiben der Situation im Saal. Sehr sympatisch.

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