Trauer im Schillerkiez: „Sehr viele wollten Marco helfen, aber er blieb stur“

Niemand muss in Berlin auf der Straße leben. Rund 50.000 Menschen, darunter etwa 15.000 Geflüchtete, sind in der Stadt auf Grundlage des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (ASOG) in Wohnungen, ASOG-Unterkünften, Hostels oder in anderen Einrichtungen untergebracht. Umgekehrt wäre es falsch anzunehmen, dass sich mindestens 2.000 Obdachlose in Berlin, die während der ersten Nacht der Solidarität im letzten Jahr von Freiwilligen gezählt wurden, alle aus freiem Willen und eigenem Antrieb bewusst für das Leben auf der Straße entschieden haben: Krankheit, Trennung von der Familie, Verlust der Arbeit oder fehlende soziale Netzwerke können ebenso eine Ursache der Obdachlosigkeit sein. Das veranschaulicht die Nachricht vom Tod eines Musikers in Neukölln auf traurige Weise. Es fehlen Wohnraum sowie geeignete niedrigschwellige Angebote für die Hilfebedürftigen, lautet die Kritik.

In einem Rettungswagen unmittelbar vor seinem provisorischen Lager starb am 8. Januar der Musiker Marco Reckinger. Er wurde 33 Jahre alt. Reckinger war im Schillerkiez zwischen U-Bahnhof Boddinstraße, Hermann- und Herrfurthstraße mit dem Spitznamen Markus kein Unbekannter. Seit etwa 2016 lebte er dort auf der Straße, nachdem er 2012 in Berlin angekommen war. In Brasilien geboren, wuchs er als Adoptivkind im luxemburgischen Dudelange auf, studierte Tontechnik im Ausland und wurde 2008 mit dem musikalischen Duo-Projekt „Christal and Crack“ in Luxemburg bekannt. Während seiner späteren Zeit in Paris und zuletzt in Berlin war er künstlerisch mit Elektro- und Rap-Projekten aktiv, produzierte Hip Hop sowie elektronische Musik, die im Internet noch zu hören ist. Unter der Überschrift „Luxemburger Musikszene trauert“ veröffentlichte RTL vorgestern einen Nachruf auf den Künstler.

Sonntagmittag erinnerte der Schauspieler Max Thommes in der Herrfurthstraße an seinen Freund, den er seit zwei Jahrzehnten kannte. Rund 100 Menschen waren zu der halbstündigen Kundgebung gekommen. Neben der Einfahrt, wo Reckinger zuletzt lebte, hatten zahlreiche Menschen schon tags zuvor Kerzen, Blumen, Fotos und handschriftliche Botschaften vorbeigebracht. Unübersehbar klebte die vergrößerte Kopie eines Artikels aus dem Berliner Tagesspiegel vom 29. Februar 2020 an der Hauswand. „Sehr viele wollte Marco helfen, aber er blieb stur“, berichtete Thommes den Versammelten über seinen Freund, der Stimmen gehört und dessen Außenwelt sich irgendwannn so verengt habe, dass er völlig abgedreht sei: „Er war schräg, laut, aber nie gefährlich. Wie eine tickende Zeitbombe entwickelte er sich in eine Richtung, aus der es kein Zurück mehr gab.“

Dem plakatierten Zeitungsartikel ist zu entnehmen, dass auch die Nachbarn sich sorgten, weil der Obdachlose nachts oft schrie. Der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) des Bezirks wurde alarmiert, konnte aber nichts unternehmen, weil der Mann nur dann gegen seinen Willen in eine Klinik eingewiesen werden könne, wenn er sich oder andere gefährde. Die freiwillige Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft lehnte er dagegen beharrlich ab. Die Personalprobleme des SpD, über die im Artikel auch berichtet wird, sind inzwischen gelöst, versicherte mir Hannes Rehfeldt, Sprecher des Neuköllner Gesundheitsstadtrats Falko Liecke, erst vorgestern telefonisch. „Personalprobleme wie auch Corona haben die Betreuung durch den Sozialpsychiatrischen Dienst seit März 2020 nicht beeinträchtigt“, sagte Rehfeldt und wies darauf hin, dass auch die Straßensozialarbeit einbezogen war. Zuletzt sei Ende 2020 eine gesetzliche Betreuung für Marco Reckinger beantragt worden, weil er in eine Wohnung ziehen wollte.

=Christian Kölling=

Eine Antwort

  1. Das in Berlin niemand auf der Straße leben muss ist falsch. Die Zugangsvoraussetzungen zu prekären ASOG-Unterkünften sind für die Obdachlosen in aller Regel unüberwindbar hoch. Sie erfordern die Fähigkeit, die eigenen Interessen und Ansprüche vertreten zu können, die zuständige Soziale Wohnhilfe zu eruieren und dort dann mit Identitätsnachweis (den die wenigsten haben) innerhalb der Sprechstunden vorzusprechen. D.h. es scheitert oft schon allein an der Sprachbarriere, fehlenden Papieren, psychischer Erkrankung und Desorganisation die einen „Helfer“/gesetzlichen Vertreter erforderlich machen würde Auch müsste der Obdachlose in der Lage sein, sich um die Kostenübernahme-Verlängerungen eigeninitiativ zu kümmern. In den ASOG-Unterkünften herrschen zudem derart prekäre Verhältnisse bei willkürlichen Tagessätzen mafiöser privater Betreiber, dass hiermit kaum einem Obdachlosen geholfen ist. Zudem gibt es viel zu wenig ASOG-Unterbringungsplätze in Berlin.

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