Soundwalk öffnet die Ohren für angenehme und belästigende Geräusche im Neuköllner Reuterkiez

„Erholsame Ruhe ist mehr als die Abwesenheit von Lärm, so wie Gesundheit mehr als die Abwesenheit von Krankheit ist“, lautet die Maxime der italienischen Klanggebietsforscherin Dr. Antonella Radicchi (r.), die an der Fakultät VI Planen Bauen Umwelt des Instituts für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin arbeitet. Lärm ist nach Luftverschmutzung das drängendste Umweltproblem in allen Städten der Europäischen Union. Lärm schadet der physischen und psychischen Gesundheit und verursacht Probleme, die von kogni-tiven Störungen bis hin zu Fettleibigkeit, Bluthochdruck und Depressionen reichen. Am vergangenen Mittwoch – dem Internationalen World Listening Day – lud die Expertin für den Zusammenhang von städtebaulicher Planung, Gesundheit und Wohlbefinden in Zusammenarbeit mit dem Stadtteilbüro Reuterkiez zum Soundwalk durch das Quartier ein.

„Ein Soundwalk ist ein Spaziergang, bei dem jedem Geräusch der Umgebung Aufmerksamkeit geschenkt wird“, erklärte Radicchi. „Halten Sie die Ohren auf! Achten Sie im Vorder- und im Hintergrund auf nahe und ferne Geräusche, auf leise und laute, egal ob Sie sie mögen oder nicht“, instruierte sie die Teilnehmer ihres Klangspaziergangs. Auch Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann, der seit 12 Jahren im Reuterkiez lebt, gehörte dazu, ebenso Barbara Schünke, die Geschäftsführerin des Nachbarschafts-heims Neukölln, und Elisabeth Cieplik von der AG Wohnumfeld des Quartiers. Der Rundgang begann vor dem Kinderkiosk am Reuterplatz mit einer Ohrenreinigungsübung, bei der die Spaziergänger mit geschlossenen Augen in die Richtung zeigen sollten, aus der die Klangforscherin, die mehrmals ihre Position wechselte, sie gerade ansprach. Anschließend gingen die Teilnehmer langsam, einzeln hinterein-ander und schweigend zum ersten Hörpunkt auf dem Reuterplatz.

Die Gruppe wurde dort aufgefordert, zunächst ein bis zwei Minuten lang den Geräuschen auf dem Platz zuzuhören. Dann füllten die Teilnehmer einen einfachen Fragebogen aus, der für jeden Hörpunkt gleich war. Welche Geräusche tragen hier zu einem Gefühl der Ruhe bei? Welche Geräusche stören Sie hier?, wurde auf den Bögen gefragt. Zunächst musste der jeweilige Ort aber als „nicht ruhig“, “ein bisschen ruhig“, „ziemlich ruhig“, „ruhig“ oder „sehr ruhig“, eingestuft werden. Am Ende wurde gefragt, ob die Geräuschumgebung für den städtische Raum als angemessen empfunden wird und ob sie den Wünschen der Befragten entspricht. In einer sechsten, auf die Zukunft gerichteten Zusatzfrage hieß es: „Welche Art von Aktionen und Maßnahmen würden Sie empfehlen, um die Qualität der Geräusch-umgebung zu schützen bzw. zu verbessern?“

Im Gegensatz zum belebten Reuterplatz waren am zweiten Soundwalk-Haltepunkt in der Pannierstraße keine mensch-lichen Stimmen zu hören, nur der Straßenverkehrslärm sowie das Zwitschern einzelner Vögel. In der Sonnenallee – dem lautesten Punkt des Spaziergangs – mischten sich hingegen unter den beachtlichen Verkehrslärm auch menschliche Stimmen. An der Ecke Weichsel-/Weserstraße war es mit 53 Dezibel vergleichsweise ruhig. Wirklich alarmierend sind hier allerdings die Werte, die die Lärmforscherin Dr. Radicchi bereits bei vorherigen nächtlichen Touren gemessen hat: 70 Dezibel Sonnabendnachts um 23 Uhr! Gespräche, klirrende Flaschen, Musik, zerbrechendes Glas, dumpfe Bässe, Lachen. Lärm, der von Menschen gemacht wurde, die sich draußen in der Weserstraße vor Bars, Clubs und Spätis aufhielten, um den milden Abend zu genießen.

Am Weichselplatz war die letzte Station des Soundwalks erreicht. Diesen Ort empfanden alle als die angenehmste Klangumgebung im Kiez. Die Gruppe tauschte Gedanken und Ideen aus, verglich das subjektive Lärmempfinden mit den objektiv gemessenen Werten und diskutierte über Vorschläge für die Zukunft. Stefanie Wernecke und Dominik Biewer, die beim Stadtteilbüro Reuterkiez arbeiten, brachten das Thema Tourismus ins Gespräch. Im Stadtteilbüro fand dazu im April vergangenen Jahres ein Workshop Tourismus statt. Das vom Nachbarschaftsheim Neukölln betriebene Büro unterstützt die AG Wohnumfeld, die Nachbarschafts-Initiative Weserstraße und andere Initiativen im Reuterkiez beim Einsatz für das Recht auf eine ruhige Nacht und gegen die Touristifizierung des Viertels.

Dr. Antonella Radicchi will die gesammelten Daten nun auswerten und der Community zur weiteren Reflexion zur Verfügung stellen. Mit ihrer Hush City App kann jeder ein aktiver Teil eines Forschungsprojekts zu Geräuschkulis-sen und Citizen Science werden. Die App soll helfen, ruhige Gebiete im Alltag in der Nachbarschaft zu identifizieren, zu erschließen und zu bewerten.

=Christian Kölling=