Eine Biografie, die zum Katalysator wurde

stroebele_1.mai-demo2015_berlinObwohl Neukölln wegen der Nachbarschaft zu Kreuzberg seit jeher eine enge Beziehung zur Alternativkultur hat, die Ende der 1970er Jahre als Folgebewegung der außerparlamentarischen Oppo-sition APO entstand, vermitteln beide Bezirke oft ein ganz unterschiedliches Bild nach außen. Bestes Beispiel: Während Kreuzberg wegen seiner krawalli-gen revolutionären 1. Mai-Demonstration alljährlich in den Medien ist, verlaufen die wenigen Demos in Neukölln meist unspektakulär. Zieht ausnahmsweise aber doch ein politischer Umzug durch den Bezirk – wie etwa die revolutionäre 1. Mai-Demo 2015 – ist die Wahrscheinlichkeit hoch, den Kreuzberger Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele mit seinem Fahrrad zu treffen. „Die Straße ist der Ort, an dem sich in der Demokratie der politische Wille bildet. Das ist direkte Kommunikation“, lautet ein Leitsatz des Rechtsanwalts und Grünen-Politikers, der seine größte cover stroebele - die biografie_stefan reinecke_berlin verlagPopularität wohl im Oktober 2013 genießen konnte, als er in Moskau ein dreistündiges Gespräch mit dem NSA-Aussteiger Edward Snowden führte.

Der Journalist Stefan Reinecke, der seit 2002 für das Parlamentsbüro der taz arbeitet, hat eine Ströbele-Biographie geschrieben, die Anfang April mit dem Titel „Ströbele – Die Biografie“ im Berlin Verlag erschien. „Ich habe keine autorisierte Biographie geschrieben. Der Autor ist nicht die Feder des Porträtierten“, erklärte lesung stroebele_reinecke_berlin-kreuzbergReinecke bei der Buchpre-miere, die gemeinsam mit Hans-Christian Ströbele im taz-Café in der Rudi-Dutschke-Straße, schräg gegenüber vom Springer-Hochhaus stattfand.

Das detailliert geschriebene und faktenreiche Buch basiert auf zahlreichen Gesprächen mit Ströbele im Jahr 2015. Zusätzlich sprach Reinecke mit knapp 60 Zeitzeugen. Trotzdem ist der Portraitierte mit vielen Bewertungen des Autors nicht einverstanden: „Das Buch ist mir näher gegangen als ich anfangs gedacht hatte. Es ist für mich zum Katalysator dutschke_springer_strassenschilder berlingeworden, um Zeit freizuschaufeln, damit ich auf-schreiben kann, was tatsächlich passiert ist“, sagte Ströbele im vollbesetzen taz-Café. Vielleicht deshalb wurde einige Wochen später bei einem anderthalb-stündigen Gespräch zwischen Ströbele und Harald Moritz, Grünen-Mitglied des Berliner stroebele_mai2016_berlinAbgeordneten-hauses, das bei der Wohnungsbaugenossenschaft Treptow Nord e. G. stattfand, Stefan Reineckes 464 Seiten starke Biographie mit keinem Wort erwähnt. Die Kontroverse über die richtige Auslegung der Geschichte der außerparlamentarischen Opposition und ihre Auswir-kungen für die linke Alternativbewegung, die im Anschluss an den Deutschen Herbst 1977 entstand, geht aber weiter: In wenigen reichstag-portal_berlinTagen wird Reinecke bei der Langen Buchnacht aus seinem Werk lesen – und mit Ströbele diskutieren.

„Ströbele spielt seit 1970 die Rolle des idealen Gesamtlinken, des Hausvaters, der am 2. Juni 1967 entstandenen linken Familie, des gegen Mehrheitsgesell-schaft und Staat entstandenen Kollektivs“, schreibt Stefan Reineke auf Seite 364 seines Buches. „Hat Reinecke eine Ströbele-Biographie oder nicht eher einen Abriss der Geschichte des linken Deutschland am Beispiel des Lebens von Ströbele geschrieben?“, können sich die kritischen Leserinnen und Leser fragen. Tatsächlich biographischen Charakter tragen reichstagskuppel berlineigentlich nur die Kapitel eins und zwei auf den ersten 70 Seiten des Buches.

Drei Motive, die Reinecke für Ströbeles Wendung nach links aufführt – nämlich Empörung über die rüde Art, wie die Mehrheitsgesellschaft in Westberlin geschlos-sen mit den protestierenden Studenten umspringt, Unverständnis über den Krieg der USA in Vietnam und die Erkenntnis, dass in der Bundesrepublik die herrschenden Eliten bereits dem NS-Regime dienten – bewegten damals Tausende kritischer Menschen in Berlin zum Sinneswandel.

Ströbele zieht 1961 nach Berlin, um Jura und Politische Wissenschaft an der Freien Universität zu studieren. Seinen Wehrdienst hat er – wie selbstverständlich in dieser Zeit – als Kanonier in Aurich bei der Bundeswehr gerade absolviert. Allenfalls seine Arbeit als Vertrauensmann, der sich für seine Kameraden im Einklang mit den Regeln gegen die Autoritäten einsetzt, deutet seine antiautoritäre Abneigung gegen den Untertanengeist an. Dass Westberlin bald das Treibhaus sein wird, in dem sich Gegenkultur und radikale Linke entwickeln werden, ist längst noch nicht zu ahnen. markierung berliner mauer_berlinStröbele engagiert sich vielmehr kurz nach dem Mauerbau zunächst für Fluchthilfe von Ost nach West, steigt aber aus, als er mitbekommt, dass Geld fließt und eine entfernte Bekannte sich prostituiert, um die nötigen Mittel für Schleuser aufzutreiben, die Ver-wandten zur Flucht verhelfen sollen.

Der charismatische und antikommunistische Kennedy ist für ihn ein Idol: Als der US-Präsident am 22. November 1963 in Dallas ermordet wird, geht Ströbele zu einer spontanen Trauerversammlung zum Rathaus Schöneberg, wo Kennedy im Juni noch seine Rede mit dem historischen Satz „Ich bin ein Berliner“ gehalten hatte. Nachdem der Jura-Student im Spätherbst 1965 das erste Staatsexamen gemacht hat, ändert er langsam sein Leben. 1966 jobbt er u. a. bei einem Rechtsanwalt in Neukölln, für den er kleinere Delikte – oft Verkehrssachen – bearbeitet. Im gleichen Jahr weckt die Bildung der Großen Koalition in Bonn bei den bis dahin angepassten und unkritischen Studenten erstmals leise Befürchtungen am Zustand der Demokratie. Der Krieg der USA in Vietnam rückt langsam in das öffentliche Bewusstsein. Besonders im von Krieg, Teilung und Mauerbau traumatisierten Westberlin wird Kritik an der Schutzmacht USA von der Mehrheit als blanker Verrat angesehen wird.

Im Sommer 1967 heiraten Hans-Christian Ströbele und die Schauspielerin Juliana Gregor, deren Vater deutscher Botschafter in Bolivien ist, in der Kathedrale Notre Dame in Paris. Auch Ströbele, der 1939 geboren wurde und dessen Vater bis 1945 in dem kriegswichtigen Buna-Werk als hochrangiger Chemiker arbeitete, entstammt der Oberschicht. Er ist zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt, ein disziplinierter, angehender Jurist mit guten Karriereaussichten; Er ist Besitzer einer Eigentumswohnung in stroebele-wahlplakat_august2013_berlin-kreuzbergSchmargendorf, kurzum: er gehört zum Establishment.

Sehr viel Raum nimmt nach diesen ersten beiden Kapiteln Reineckes ausführliche Schilderung über Ströbeles Leben als „Linksanwalt“ ein. Es beginnt mit der Arbeit im Sozialistischen Anwaltskollektiv, bei dem Ströbele als Mitarbeiter von Horst Mahler 1969 anfängt, und endet mit Ströbeles Verurteilung zur einer 18-monatigen Bewährungsstrafe wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung am 19. Januar 1981 durch die Moabiter Staatsschutzkammer. Vergleichsweise bescheiden werden Ströbeles Enga-gement bei der Gründung der alternativen Tageszeitung taz und beim Aufbau der Alternativen Liste Berlin sowie seine Arbeit als Parteimanager der Grünen Bundespartei dargestellt. Auch Ströbeles Arbeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag wird von Stefan Reinecke nur in wenigen Kapiteln kursorisch abge-handelt. freiheit statt angst demo-aufruf 2014_neukoellnDer Abschnitt „Schily, Ströbele und die Bürger-rechte“ wird im Kapitel 10 „Rot-Grün an der Macht. 1998 bis 2005“ beispielsweise auf gerade einmal sechs Seiten dargestellt, während etwa dem Kunzelmann-Prozess aus den 1970er Jahren ganze 12 Seiten eingeräumt sind.

stroebele_schaar_demo2014_berlinStröbeles politischer Bedeu-tung und seinem Engagement wird diese Gewichtung nicht unbedingt gerecht. Wenn der Demo-Inspektor einmal nicht als Anwalt und Beobachter am Rand steht, ist er wahrscheinlich selbst als Aktivist und Demonstrant unterwegs: wie z. B. Ende August 2014 mit dem früheren Datenschutzbeauftragten Peter Schaar bei der alljährlichen Freiheit statt Angst-Demo.

Am 4. Juni liest Stefan Reinecke um 20 Uhr im Rahmen der Langen Buch-nacht aus „Ströbele – Die Biografie“. Hans-Christian Ströbele nimmt an der Veranstaltung in der Kreuzberger St. Thomas-Kirche (Bethaniendamm 23 – 27) teil, um mit dem Autor über das Buch zu diskutieren; der Eintritt ist frei.

=Christian Kölling=