„Husten, wir haben ein Problem!“: Spitzenplatz-Abonnement für Neukölln beim Feinstaubalarm

warnschild_euaqdem_feinstaub-demo neukoellnGestern früh am Rathaus Neukölln. Eine Frau im weißen Maleranzug mit Atemmaske hält ein Schild, auf dem steht: „Abgase töten. Feinstaub reizt die Schleimhäute, führt zu Husten, ver-schlimmert Asthma und kann Krebs verursa-chen.“ Die Frau gehört der fiktiven EU Air Quality Directive Enforcement Mission (EUAQDEM) an, die ausschließlich moderne Cargobikes mit und ohne E-Antrieb nutzt. Die EUAQDEM-Einheit, erläutert ein Flugblatt, „verlegt im Rahmen der humanitären Soforthilfe mobile Luftfilter-Einheiten nach Neukölln. Sie sind ausgerüstet mit modernster Filtertechnik, staubsauger_feinstaub-demo neukoellndie sich im Kampf gegen die Airpocalypse in chine-sischen Städten bewährt hat.“ Die Satire-Aktion soll gemeinsam mit rund 60 Teilnehmern, die einem Demo-Aufruf des Netzwerkes Fahrradfreundliches Neukölln kruse_messstelle kms_feinstaub-demo neukoellngefolgt sind, für bessere Luft in Berlin sorgen.

Das Netzwerk hat unter dem Motto „Husten! Wir haben ein Problem“ eine Kundgebung mit Mini-Demonstration angemeldet, die einmal rund ums Rathaus führt. Denn Feinstaub und andere Luft-schadstoffe, wie z. B. die für die sommerliche Ozonbildung verantwortlichen Stickoxide, würden vor allem Kinder und Senioren sowie Menschen mit Vorerkrankungen der Atemwege und des Herz-Kreislaufsystems gefährden. Tatsächlich schwanken Schätzungen, wie viele Todesfälle in Deutschland pro Jahr infolge hoher Feinstaubbelastungen zu beklagen sind, zwischen 25.000 (Umweltbundesamt), 47.000 (Weltgesundheitsorganisation WHO) und 70.000 (EU-Kommission). „Herun-ter gerechnet auf Berlin sterben wegen Feinstaubbelastungen im Durchschnitt drei Menschen pro Tag vorzeitig“, vermutet Carolin Kruse für die Demoveranstalter bei blume_luftmessstelle rathaus neukoellnihrer Rede schräg gegenüber der Station des BLUME Messnetzes vor dem Haus Karl-Marx-Straße 76. Verlässliche Zahlen über frühzeitige Todesfälle hat aber wohl niemand.

Politischer Hintergrund des Protestes, den die Verbände Grüne Liga Berlin e. V., der Landesverband Nordost des ökologischen Verkehrsclubs VCD sowie die Naturfreunde Berlin unterstützen: Seit Januar 2005 gilt EU-weit ein Grenzwert für Feinstaub von 50 µg/m³ in der Atemluft, der maximal 35-mal pro Jahr überschritten werden darf. Da in Stuttgart, Leipzig und ebenso in vielen anderen deutschen Städten dieser Grenzwert immer noch nicht eingehalten wird, leitete die Europäische Union im November 2014 ein Vertragsverletzungsverfahren ein. Der Vorwurf: Deutschland schütze seine Bürger nicht ausreichend vor Feinstaubbelastungen. In letzter Konsequenz droht bei Untätigkeit eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Das Bundesland Berlin hat deshalb einen Luftreinhalteplan bis 2017 aufgestellt, und aktuelle Daten zur Luftgüte in Berlin, die das BLUME-Messnetz liefert, werden laufend veröffentlicht.

Feinstaub entsteht durch Emissionen aus Kraft- und Fernheizwerken, Öfen und Heizungen in Wohnhäusern. Im Stadtgebiet ist der Straßenverkehr die größte Staubquelle. Der Schadstoff gelangt aber nicht nur aus Motoren – vorrangig aus Dieselmotoren – in die Luft, sondern entsteht auch durch Bremsen- und Reifenabrieb sowie durch Staubaufwirbelung von der Straßenoberfläche. Deutschlandweit veröf-fentlicht das Umweltbundesamt inzwischen Karten, Verlaufsgrafiken und Tabellen, die über die aktuellen Messwerte für Luftschadstoffe informieren. Ganz weit vorne beim bundesweiten Feinstaubalarm sind auch in diesem Jahr wieder die Karl-Marx-Straße, die Silbersteinstraße und die Nansenstraße am Reuterplatz im Bezirk euaqdem_feinstaub-demo neukoellnNeukölln mit je fünf Grenzwertüberschrei-tungen seit dem 1. Januar.

„Neukölln muss endlich ein Fahrradbezirk werden!“, fordern nun Carolin Kruse und ihre Mitstreiter. Mehr Verkehr mit Bus, Bahn und Fahrrad sowie zu Fuß, könnte die Schad-stoffbelastung ebenso mindern wie Tempo 30 und verkehrslenkende Maßnahmen. Silke Gebel, umweltpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, weist bei der Demo darauf hin, dass körperliche Bewegung grundsätzlich die Gesundheit fördere und Zivilisations-krankheiten entgegenwirke – aber auch der Aspekt der Umweltgerechtigkeit sei wichtig, wenn die einzelnen Berliner Bezirke sich entschließen würden, fahr-radfreundlich zu werden. „Ich weiß nicht, warum die Feinstaubbelastungen in der Nansenstraße im Reuterkiez ebenso hoch sind, wie in der Karl-Marx-Straße und in der Silbersteinstraße“, antwortet die Politikerin auf eine Frage. „Hohe Hintergrund-belastungen im Wohngebiet dürfen aber keine Ausrede sein, um an Haupt-verkehrsstraßen nichts zu tun!“, fügt sie bestimmt hinzu. Anja Kofbinger, Neuköllner Abgeordnete der Grünen im Landesparlament, kritisiert: „Der Senat und das Bezirksamt Neukölln müssen die schlechten Werte endlich zur Kenntnis nehmen und Gegenmaßnahmen einleiten.“ Auch wenn die Hauptveratwortung bei der Landesregierung liege, seien im Bezirk sowohl die Bezirksstadträte Thomas Blesing (SPD) wie auch sein Amtskollege Falko Liecke (CDU) mit gefordert. Während Blesing für Straßen und das Umweltamt zuständig ist, trägt Liecke für die Ressorts Gesundheit und Jugend die Verantwortung. „Gerade Kinder und Jugendliche sind feinstaub-demo neukoellneine Hauptrisikogruppe bei Umwelterkran-kungen und Verkehrsunfällen“, stellt Kofbinger fest.

Dass die Einhaltung der geltenden EU-Grenzwerte zur Luftqualität nicht möglich ist, ohne den motorisierten Individualverkehr zu verringern, gab Staatssekretär Christian Gaebler aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt erst Ende Dezember 2015 in seiner Antwort auf eine Schriftliche Anfrage von Andreas Baum (Piraten-Partei) zu: „Es ist daher schon seit Langem verkehrsplanerisches Ziel des Senats, im Rahmen der Umsetzung des Stadtentwicklungsplans Verkehr und seiner Teilstrategie Förderung des Umweltverbundes die Anteile der Verkehrsmittel des Umweltverbundes am Gesamtverkehrsaufkommen der Stadt weiter zu erhöhen“, antwortete er auf Baums 6. Frage innerhalb der Drucksache 17/17625In Neukölln scheint für die Förderung des Umweltverbundes aber kein Straßenraum mehr zur Verfügung zu stehen. Saskia Ellenbeck vom Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln kommentiert: „Ich finde es ungerecht, dass für Autos umsonst Parkplätze angeboten werden, während für Radwege und Radständer angeblich kein Platz auf der Straße sein soll.“

=Christian Kölling=