Seit gestern Mittag sind die Redlins, die seit 40 Jahren eine Parzelle in der Kolonie Roseneck im Neuköllner Ortsteil Britz haben, nicht nur um eine Erfahrung reicher. Sie
wissen nun einer-seits, dass dem Dach ihrer Laube einiges zuzutrauen ist und es sogar zum Pressezentrum taugt. Aber andererseits: „Wie sollen wir Leuten, die uns besuchen wollen, denn jetzt erklären, wo sie uns finden?“, grübelt Heidi Redlin. Für alle, die sich auf ihm nicht auskennen, gleicht das vom Gleis der Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn zerschnittene Gelände westlich des Britzer Damms einem Labyrinth. Dass gleich drei Kleingartenkolonien in
unmittelbarer Nachbarschaft zueinander liegen, erschwert die Orientierung zusätzlich. „Bisher konnten wir immer sagen: Direkt am RIAS-Sen-demast, doch der ist ja nun gleich Geschichte.“
Punkt 14 Uhr war es, als Sprengmeister Oliver Marks von der Firma TVF Altwert nach einem Signalton und dem Countdown den Knopf drückte, der die an vier der 12 Spannseile angebrachten Sprengsätze mit einem Gesamtgewicht von 1,4 Kilogramm aktivierte. Ein dumpfer Knall, dann kippte das 160 Meter hohe, auf einem Pendelgelenk mon-tierte Stahlgerüst, gezogen von den intakten Seilen, ins Grüne, riss im Fallen noch einen Baum mit und war nicht mehr zu sehen.
Innerhalb weniger Sekunden verschwand aller-dings außer einem Orientierungspunkt in der Britzer Peripherie auch ein Kapitel deutscher Hörfunkgeschichte. Am 4. September 1946 war von hier aus erstmals über die Mittelwellen-frequenz 611 kHz der Rundfunk im Amerikanischen Sektor ausgestrahlt worden. „Anfangs wurde noch von LKWs aus gesendet“, erzählt Carsten Zorger, Abtei-lungsleiter Kommunikation bei Deutschlandradio. Schon drei Jahre später war in Britz einer der ersten deutschen Großsender entstanden; die 146 Meter hohe Südost-Antennenanlage ermöglichte einen Empfang des RIAS-Programms in der gesamten sowjetischen Besat-zungszone. 1961 kam schließlich ein zweiter, 160 Meter hoher Sendemast dazu. Während der erste Turm bereits im Herbst 2012 demontiert wurde, sendete der Nordwest-Mast auf dem im Januar 2003 von Deutschland-radio erworbenen Areal noch bis zum 4. September 2013 die Kultursparte der öffentlich-rechtlichen Rundfunk-anstalt. Seitdem ist die funktionslose Stahlgerüst-Konstruktion einzig ein Kostenfaktor für den Sender gewesen. „Sie war zwar nicht mehr an die Strom-versorgung angeschlossen“, so Zorger, „verursachte aber weiterhin Ausgaben für die Instandhaltung und die Bewachung durch eine Sicherheitsfirma.“ Mittelwelle höre ja inzwischen kein Mensch mehr, stattdessen setzen die Sender auf den schnellen Ausbau des Digital Audio Broadcasting. Auf der UKW-Frequenz strahle Deutschland-radio
seine Programme längst und auch weiterhin
über den Fernsehturm am Alexanderplatz ab.
„Eine bilderbuchmäßige Fallrichtungssprengung mittels einer Schneidla-dung war das“, resümiert Roland Domke (l.), nach-dem das Gelände, auf dem sich der 55 Tonnen-Mast abgelegt hat, inspiziert und für die Pressebesichtigung freigegeben ist. Die Sprengung der Richtfunkanlage Berlin-Frohnau vor sechs Jahren sei weitaus anspruchsvoller und der Sendemast Britz keine besondere Herausforderung gewesen, fin-det der TVF-Regionalleiter. „Sogar unser Wunsch, dass das Antennenhaus stehenbleiben sollte, wurde erfüllt“, freut sich Reinhardt Deuscher, der Deutschlandradio-Abteilungsleiter Programmver-breitung, über die offensichtliche Maßarbeit von Sprengmeister Oliver Marks. Dass eine Lampe
sowie der Zaun die Kollision mit dem fallen-den Riesen nicht über-standen – Lappalien, es hätte mehr schiefge-hen können. Nur eine unerwartete starke Windböe hätte gereicht, um sämtliche Planungen zu verwehen und mit neuen Eventualitäten rechnen zu müssen, weiß Roland Domke. Folglich seien bei der Lagebesprechung am Vormittag alle erleichtert gewesen, als sich herausstellte, dass die am Vortag prognostizierten Gewitter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Bogen um Berlin machen würden.
Es ist ein beeindruckendes Bild, das der im Gras liegende ehemalige Sendemast abgibt. Einige Segmente sind fast unversehrt, andere durch gewaltige Kräfte verbo-
gen, zerborsten und miteinander verknäult. Die Spannseile, die den Turm hielten, hängen wie Lametta in den Bäumen, jeder Schritt kann einen Tritt auf ein Stück RIAS-Geschichte bedeuten. „Passen Sie bitte auf, dass Sie sich nicht am scharfkantigen Metall verletzen!“, mahnt Reinhardt Deuscher (l.) zu Vorsicht.
Einen Monat, schätzt er, wird es dauern, bis der Sendemast ab-getragen ist. Mitte nächsten Jahres will Deutsch-landradio dann das gesamte Areal verkaufen. Bis dahin wird die große Halle im Hauptgebäude am Britzer Damm, in der einst Transformatoren standen,
weiterhin für Hörfunk-produktionen bzw. ab Anfang nächsten Jahres als Lagerfläche genutzt.
„Wir werden wohl sagen müssen: An der Mülle vorbei und dann rechts!“, überlegt Heidi Redlin. Das markante Gebäude der BSR-Abfallbehandlungswerks erhebt sich nördlich der Kolonie Roseneck. Ja, sagt sie, sie werde den Mast schon vermissen – auch wegen des Spektakels, das man beobachten konnte, wenn bei Gewitter Blitze in ihm einschlugen.
=ensa=
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