Nicht gegeneinander, sondern miteinander: Neuköllner Kiezgespräch über solidarische Ökonomie

wasserturm_neuköllnEher im kleinen Rahmen finden alle sechs bis acht Wochen die Kiezgespräche der Neuköllner Grünen-Abgeordneten Anja Kofbinger und Dr. Susanna Kahlefeld statt. Dass am vergangenen Freitag zum Podiumsgespräch „Solidarische Ökonomie – eine alternative Form des Wirtschaftens“ mehr als 50 Gäste ins Agora Collective, schräg gegenüber vom alten Wasserturm im Rollbergviertel kamen, lag sicherlich sowohl am Thema als auch an den Ge- sprächsteilnehmern. Sven Giegold, Europa-Parlamen- tarier und Gründungsmitglied von Attac-Deutschland sowie Bola Olawolo, wirtschaftspolitischer Sprecher im Abgeordnetenhaus, waren für die Grüne Partei gekommen, während Florian Hauschild vom Non-Profit-Teeladen Chasinho und der Dezentrale als Projekt-Aktivist infomaterial_kiezgespräch solidarische ökonomie_agora collective neuköllneingeladen war.

„Europa ist für Nord-Neukölln mit den verschiedensten Förderprojekten oft sehr viel näher als die Bundesebene“, erläuterte Moderatorin Susanna Kahlefeld, warum Sven Giegold, der u. a. im Ausschuss für Wirt- schaft und Währung des Europa-Parlaments sitzt, eingeladen war. Zunächst bat sie aber Florian Hauschild, aus der Praxis zu berich- ten, was ein Unternehmen der Solidarischen Ökonomie von anderen unter- kiezgespräch-einladungsflyer_solidarische ökonomie_agora collective neuköllnscheidet.

„Ich komme aus der Occupy-Bewegung und halte das ganze Finanzsystem für fragwürdig. Das der- zeitige Wirtschaftssytem ist eines unserer Haupt- probleme“, leitete Hauschild seinen Erfahrungs- bericht ein. Aus dieser grundsätzlichen Unzufrie- denheit sei sein Engagement für Solidarische Ökonomie enstanden. „Es mangelt nicht am guten Willen für den Aufbau einer besseren Welt“, so Hauschild. Solidarische Ökonomie ermögliche selbstbestimmtes Arbeiten – ohne Chefs, auf genossenschaftlicher Basis, das zuerst am Gemeinwohl und – im Gegensatz zum herkömmlichen Wirtschaftssystem – nicht an maximalen Profiten interessiert sei. „Im Chasinho-Teeladen arbeiten sechs bis sieben Leute. Wir haben überhaupt kein Interesse an Fördertöpfen, und ich hatte nie Zeit, um einen Projektantrag zu schreiben“, berichtete er über den Laden im Reuterkiez: „Wir haben das alles mit sehr wenig Geld umgesetzt und im Freundeskreis sowie bei Verwandten nach Geld gefragt.“ Das Geschäft bringe durch den Teeverkauf Geld in die Kasse. „Ganz den Markt zu ignorieren, würde es nicht bringen. Für uns ist es ganz im Gegenteil wichtig, dass unser Produkt auf dem Markt besteht“, erklärte Hauschild. Niemand könne aber allein vom Teeladen leben, sondern alle Aktiven hätten noch andere Erwerbsquellen. Der Laden beherbergt außerdem die Gemeinschaftsplattform Die Dezentrale, die als organisatorische und räumliche Basis für Projektgruppen gedacht sei. Zu ihren Projekten, an denen mehr als 30 Menschen beteiligt sind, gehöre auch der sogenannte Foodsharing-Fairteiler, über den im Kiez kostenlos Lebensmittel abgegeben werden. Außerdem dient der Laden in der Lenaustraße einem solidarischen Landwirtschaftsprojekt als Berliner Abholstelle für Erntekörbe. „Ich verstehe Die Dezentrale als Startrampe für Ideen. Oder als Hafen für Projekte. Wenn andere unsere Ideen kopieren, könnte daraus eine kiezgespräch solidarische ökonomie_kahlefeld_giegold_hauschild_olalowo_agora collective neuköllnArt Anarcho-Franchise werden“, fasste Hauschild (2. v. r.) seine Wunschvor-stellung zusammen.

Was er über solidarische Ökonomie und die aktuelle Politik des Berliner Senats denke, erkundigte sich Kahlefeld (l.) anschließend bei ihrem Abgeordneten- haus-Kollegen Bola Olawolo (r.). „Soli- darische Ökonomie befriedigt Bedürfnisse, die sonst nicht ausreichend befriedigt werden. Und Menschen, die es sonst nicht so einfach haben, können einen Einstieg in der ersten Arbeitmarkt finden“, fasste er die wichtigsten Vorteile für Konsumenten und Produzenten kurz zusammen. Ungenauen und veralteten Schätzungen zufolge, die dringend aktualisiert werden müssten, gebe es circa 6.000 solidarisch arbeitende Unternehmen. Während in der von 2006 bis 2011 gültigen Koalitionsvereinbarung von SPD und Links-Partei noch das Projekt „Genossenschaften und Kooperation“ erwähnt wurde, sei es aus der aktuellen SPD/CDU-Koalitionsvereinbarung gestri- chen worden. „Die CDU blockiert alles, was in Richtung Genossenschaften geht“, beklagte der wirtschaftspolitische Sprecher der Grünen.

„Das war so ein bisschen mein Hobby im Europa-Parlament“, charakterisierte abschließend Sven Giegold sein Engagement für die Solidarische Ökonomie. Mit unerwarteter Unterstützung des EU-Kommissars Michel Barnier, der der konser- vativen UMP von Nicolas Sarkozy angehört, sei es ihm geglückt, den Begriff Soziale und Solidarische Ökonomie im Europäischen Recht zu verankern, was wichtig für spätere Projektfördermöglichkeiten sei. „Ich hätte nicht mit Unterstützung durch die Konservativen gerechnet und würde Michel Barnier gerne nach Berlin einladen, damit er seine Beweggründe erklärt. In Deutschland gibt es kaum den politischen Willen, soziale und solidarische Unternehmen zu unterstützen“, sagte Giegold. Positive Ansätze um den Genossenschaftsgedanken zu fördern, gäbe es vereinzelt in Nordrhein-Westfalen, wo das Thema Gegenstand der rot-grünen Koalitionsver- einbarung sei, sowie in Hamburg und Niedersachsen. Auch Kurt Beck habe sich früher als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz einmal mutig gegen den Mainstream publikum_kiezgespräch solidarische ökonomie_agora collective neuköllnfür Dorfläden als wirtschaftliche Vereine bzw. kleine Genossenschaften eingesetzt.

In der anschließenden Diskussion wurde auf die besondere Bedeutung verschiedenster Formen solidarischen Wirtschaftens in Argentinien während der Finanzkrise zur Jahrtausendwende hingewiesen, die bis hin zum selbstverwalteten Arbeiten in den von Arbeitern selbst besetzen Fabriken reichten. Auch heute sei z. B. in Spanien oder Italien soziale Ökonomie ein wichtiger Faktor. „Es geht auch ohne Geld“, war eine Zuschauerin von den Potenzialen der solidarischen Ökonomie überzeugt. Ein anderer Gast erinnerte an die Notwendigkeit von Arbeitsregeln und Schutzbestimmungen auch in alternativen Unternehmen. Die Orientierung an wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten würde in Alternativ-Unternehmen spätestens dann wichtig, wenn der erste Elan der Gründerzeit versiegt sei. Weltweit operierende Sharing-Initiativen wie der Mitfahrdienst Uber oder die Internetplattform AIRBNB für Ferienwohnungen wurden dagegen überwiegend kritisch bis ablehnend eingeschätzt, weil sie für die Gesellschaft keinen lokalen gemeinwirtschaftlichen Mehrwert erzeugen würden, sondern – ganz im Gegenteil – das Taxigewerbe bzw. den Wohnungsmarkt durcheinander brächten und bestenfalls olalowo_kiezgespräch solidarische ökonomie_agora collective neuköllnindividuelle Preisersparnisse böten.

Susanna Kahlefeld bat Sven Giegold und Bola Olalowo darum, sich als Wirtschafts- politiker weiter für bessere Rahmenbedin- gungen und die Förderung sozialwirtschaft- licher Initiativen einzusetzen. Die nächste Gelegenheit dürfte dazu im September der Kongress „Solidarische Ökonomie & Trans- formation“ in Berlin sein, auf den Olawolo bereits hinweisen konnte. Die Abgeordnete Anja Kofbinger stand wenig später schon mit dem Grünen Bezirksverordneten Bertil Wewer zusammen, der im Neuköllner Ausschuss für Wirtschaft sitzt. „Die Kollektive sprießen derzeit. Mehr als zwei Dutzend neue Projekte fallen mir fast auf Anhieb ein“, sagte Kofbinger dem Bezirkspolitiker. Und Wewer erinnerte sie an das KNNK Kreativnetzwerk Neukölln, das sich kürzlich erst in der Grünen-Bezirksgruppe vorgestellt habe.

Doch wird es nicht einfach sein, die Ergebnisse des Veranstaltungsabends in Anträge und Initiativen für Bezirksverordnetenversammlung und Abgeordnetenhaus umzusetzen, denn wie zu erfahren war, ignorieren Wirtschaft und Politik in Deutschland die soziale und solidarische Ökonomie weitgehend. Der Gedanke, nicht gegeneinander in Konkurrenz, sondern miteinander für ein an Nachhaltigkeit und Gemeinwohl orientiertes Ziel zu arbeiten, ist vielen einfach fremd. Warum sollte das in Neukölln anders sein?

=Christian Kölling=