Hereinspaziert!

pulcinella-figur_puppentheater-museum berlin_neuköllnEines Vormittags in der Neuköllner Karl-Marx-Straße in Höhe der gleichnamigen U-Bahn-Station. An einer über- lebensgroßen Pulcinella-Figur aus Bronze vorbei gemelanie wurst_puppentheater-museum berlin_neuköllnlangt man ins Gartenhaus.

Hier geht es hoch her. Rund zwei Dutzend Kinder disku- tieren eifrig mit Melanie Wurst. Sie gibt einer Stabmarionette, die einen König darstellt, Le- ben und eine tiefe Stimme, die fragt: „Kommt denn noch etwas in das heiße Wasser? Vielstimmige Antwort: „Die Nudeln“. Neue Frage: Wie lange müssen die kochen? „Drei Minu- ten“, meinen die Kinder. Damit es nicht allzu al dente wird, einigt man sich auf fünf Minuten und will auch dann erst einmal kosten. Aber es gibt ein Problem: Das Schloss, in dem der König lebt, hat 99 Räume und er war noch nie in der Küche. Nach vergeblichem Öffnen vieler Türen, landet er in einem Raum mit einer großen aufführung_melanie wurst_puppentheater-museum berlin_neuköllnweißen Maschine, die ein Bullauge sowie einen Knopf mit der Aufschrift „95 Grad Kochen“ hat. Das müsse ja wohl die Küche sein. Die Kinder protestieren lautstark und vehement. Aber zu spät – der König wirft die Spaghetti in die Waschmaschine. Damit scheitert der Garungsprozess, die Nudeln werden ein einziger Klumpen. Mit dem Vorschlag doch besser zum Italiener zu gehen, weil „die besonders gut Spaghetti machen können“, wird die junge Zuhörerschaft entlassen.

puppentheater-museum berlin_neuköllnAlsbald kehrt Ruhe ins Neuköllner Pup- pentheater-Museum ein, und es besteht die Möglichkeit, sich in Ruhe der zurzeit laufenden Sonder-Ausstellung „Herein- spaziert Hereinspaziert“ zu widmen: Im Parterre und auf der Galerie werden in 13 Vitrinen Exponate gezeigt, die den Bogen vom ursprünglichen Volks- zum heutigen Figurentheater spannen. Ausgesucht und zusammengestellt wurden die Stücke vom Leiter des Museums, Nikolaus Hein. Der heute 72-Jährige und seine Frau Brigitte haben hier ihr zweites, brigitte hein_nikolaus hein_puppentheater-museum berlin_neuköllnwenn nicht sogar ihr erstes Zuhause.

Nikolaus Hein berichtet, dass er ursprünglich Fotograf gewesen sei und Puppentrickfilme pro- duziert habe. Dabei lernte er 1975 den Puppenspieler Peter Steinmann kennen. „Der hatte in der Urania das erste stationäre Theater in Berlin, das literarische Figuren-theater Steinmann“, erläutert Hein. Und da habe er gemerkt, dass die Puppe das Drei- dimensionale brauche wie die Interaktion mit dem Publikum. „Das ist die Stärke des Figurentheaters. Das klappt nicht nur im Kindertheater sondern genauso im Erwachsenentheater. Seltsamerweise reagiert das Publikum auf Schauspieler anders als auf Puppen.“ Auch die fehlende Mimik sieht er eher als Vorteil: „Hier liegt es am Spieler, die Figur lachen oder weinen zu lassen. Er muss sie also gar nicht grimassieren lassen. Der Zuschauer ergänzt das nicht Gesehene in seinem inneren Auge. Seine Fantasie ergänzt das, was er nicht sieht. Er sieht nicht, dass die Figur lacht und glaubt es trotzdem. Er sieht es auch nicht wirklich, dass die Figur weint, denn sie kann es gar nicht – aber er glaubt es. Das heißt, es ist eine sehr die puppe_puppentheater-museum berlin_neuköllnteufel_puppentheater-museum berlin_neuköllnFantasie fördernde Form des Theaters, weit- aus mehr als das Schauspieltheater.“ Dass die Puppen dennoch so artifiziell gestaltet seien, stünde dem nicht im Wege.

Hein kommt immer mehr ins Schwärmen, wenn er weiter ausführt: „Es ist ein grenzen- loses Theater. Im Puppentheater können Tiere sprechen, können Figuren fliegen.“ Sollte es erforderlich sein, dass in einem Drama die Zentralfigur zum Schluss verbrannt würde, wäre das im Puppentheater möglich – eine Puppe kann reproduziert werden. So etwas ginge im Schauspieltheater nicht. Eine wunderbare Sache sei auch das vermischte Spielen von Menschen und Puppen als gleichwertige Partner, ja, die Kunstfigur könne dem Menschen sogar überlegen sein. „Besonders Maskenspiele in der Vermischung ergeben hochspannende Dar- plakat_puppentheater-museum berlin_neuköllnstellungsformen“, findet Nikolaus Hein.

Seit Jahren wird inventarisiert. Im nächsten Frühjahr soll diese Arbeit beendet sein. Zurzeit sind es mehr als 23.600 Ausstellungsstücke. Das sind neben Pup- pen auch Plakate, handgeschriebene Spieltexte, auf- gehandgeschriebener spieltext_puppentheater-museum berlin_neuköllnzeichnete Lebens- wege, Rollenbücher und Dokumente. Allein die Bibliothek umfasst über 1200 Titel. Geplant ist auch, das Museum ab 2015 der öffentlichen Hand zu übergeben. „Es laufen Ver- handlungen mit dem Bezirk und der Stadt“, erzählt Hein.

Gegründet wurde es 1986, damals noch als mobiles Puppentheater-Museum. „Da sind wir mit LKWs unterwegs gewesen, mit Vitrinen, mit Stellwänden, mit Beleuch- tungssystemen, also einem riesigem Aufwand. Und da hat es in Landes- und Städtischen Museen Ausstellungen zu bestimmten Themen gegeben. Wir hatten aber keinen Einfluss auf den museumspädagogischen Aspekt“, erinnert sich Nikolaus Hein. „Wir haben lediglich auf- und nach Beendigung dann wieder abgebaut. Und so waren wir immer interessiert, eines Tages ein eigenes Haus zu eröffnen.“ Im eingangstor_puppentheater-museum berlin_neuköllnNovember 1994 habe dann die damalige Kulturamtsleiterin Dorothea Kolland das leerstehende Bildhaueratelier in einem Hinterhof der Karl-Marx-Straße angeboten, und schon am 1. Dezember 1994 wurde der Mietvertrag unterschrieben. Gut vier Monate später war schließlich die offizielle Eröffnung: Damit gab es neben Lübeck, Bad Kreuznach und München nun auch ein Puppentheater-Museum in Berlin.

Über die Geschichte des Puppentheaters, der bekannten Bühnen, Stücke, Spieler aber auch der Puppenhersteller scheint Nikolaus Hein alles zu wissen. „Pup- pentheater war lange Zeit ein Theater für Erwachsene“, der glückliche schiffbruch_puppentheater-museum berlin_neuköllnerzählt er. Handpup- penspieler mit Guckkastenbühnen hätten dort gespielt, wo ohnehin Menschen waren, im Frei- en, auf Jahrmärkten, an Straßenecken. Neben klassischen Theaterstücken wurden auch Volks- stücke und Satiren auf eine ungeliebte Obrig- keit vorgetragen; anschließend wurde mit dem Hut gesammelt. Dagegen bedurften Marionetten- spieler schon immer eines Saales mit Kunst- licht.

Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Pup- penbühnen mit entsprechenden Stücken auch den Kindern zugänglich gemacht. Heute, so Hein, gebe es allerdings mit gutem Erfolg wieder verstärkt Angebote für Erwachsene.

Früher, berichtet der Museumsleiter, habe eine Bühne neben einem festen En- semble viele Figuren gehabt: „Die wurden wechselseitig immer wieder eingesetzt. Heute dagegen werden für jede Inszenierung neue Figuren hergestellt, deshalb gibt es höchstens eine neue Inszenierung pro Jahr, eher aber alle zwei Jahre.“ Dabei würden für jedes Stück auch eine neue Bühne und neue Kulissen hergestellt. Plant man eine neue Figur, werden zunächst ein Sozio- und ein Psychogramm hergestellt. „Denn der Spieler muss wissen, mit wem er es zu tun hat, weil er sich nur dann mit

1_puppen_puppentheater-museum berlin_neukölln2_puppen_puppentheater-museum berlin_neukölln3_puppen_puppentheater-museum berlin_neukölln

der Figur identifizieren kann.“ Danach werden Zeichnungen gemacht, die nach den Vorstellungen des Auftraggebers so lange korrigiert und verfeinert werden, bis man die Puppe herstellen kann. Kein Wunder, dass eine solche Puppe kaum für unter 2.000 Euro zu haben ist. „Puppenspieler werden nicht reich, aber sie haben Freude an ihrem Beruf“, versichert Nikolaus Hein.

Brigitte Hein, die die Begeisterung ihres Mannes teilt, spielt im Dezember en suite Frau Holle. Sie hat an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst-Busch acht Semester studiert und mit einem Diplom als Puppenspielerin/Darstellende Künst- lerin abgeschlossen. „Aber das Wichtigste ist, dass man selber eine Leidenschaft 4_puppe_puppentheater-museum berlin_neuköllndafür entwickelt“, sagt sie. Dass der Applaus vor- dergründig der Puppe statt der Spielerin oder des Spielers gilt, stört Brigitte Hein nicht. Lachend er- zählt sie, wie sie vor Kindern im Rahmen einer Führung „Pinocchio“ sowie den „Teufel mit den drei goldenen Haaren“ gespielt hätte und anschließend gefragt wurde, ob sie auch dabei gewesen wäre.

Auf die Frage nach seiner Lieblingspuppe antwortet Nikolaus Hein: „Ja, die gibt es, aber das wechselt. Wenn wir einen Fundus von einer Bühne kriegen, über die ich noch nicht allzu viel weiß, fokussiere ich meine Aufmerksamkeit auf diese Figuren, oder eine dieser Figuren. Dann frage ich natürlich diese Figuren: Wo kommt ihr her, was habt ihr für eine Geschichte? Welche Rollen habt ihr gespielt, wer war der Spieler? Also, wenn mir eine neue Figur mit 1.000 Rätseln angeboten wird, dann ist das meine Lieblingsfigur.“

Die Sonder-Ausstellung „Hereinspaziert Hereinspaziert“ ist noch bis zum 15. März 2014 im Puppentheater-Museum Berlin (Karl-Marx-Straße 135) zu sehen.

=kiezkieker=