Tür an Tür: Einprägsame Einsichten in das Leben in der Großsiedlung Britz vor und nach 1933

„Das Ende der Idylle?“ heißt die neue Ausstellung im Museum Neukölln, und wenig idyllisch war auch deren Eröffnung am Freitagabend. das ende der idylle_großsiedlung britz-ausstellung_museum neukölln„Für so viele Leute ist die Aus- stellungsarchitektur wirklich nicht ge- macht“, entschuldigte sich Museums- leiter Dr. Udo Gößwald bei allen, die keinen Sitzplatz mehr fanden oder das Geschehen innerhalb der auf Stoff ge- druckten Nachbildung der Hufeisen- siedlung nur akustisch verfolgen konn- 3_großsiedlung britz-ausstellung_museum neuköllnten. Künftig wird es im ehemali- gen Ochsenstall, in dem das Mu- seum Neukölln seit dem Umzug nach Britz seine Sonder-ausstellungen zeigt, weniger Gedränge und viel Zeit geben, sich mit den beeindruckenden Exponaten zu beschäftigen.

Im Mittelpunkt der Ausstellung, die Neuköllns Beitrag zum Berliner Themenjahr „Zer- störte Vielfalt“ ist, stehen die Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung, die als Pionierprojekt des sozialen Wohnungsbaus für Arbeiter und Angestellte geplant und zwischen 1925 und 1933 als Großsiedlung  Britz errichtet  wurden. Dass die ursprüngliche  Intention,

zeitstrahl ab 1918_großsiedlung britz_neukölln zeitstrahl ab 1933_großsiedlung britz_neukölln

komfortablen Wohnraum für kleinere Haushaltskassen anbieten zu können, schon an der Weltwirtschaftskrise über weite Strecken scheiterte, ist eine Sache. Weitaus größere Auswirkungen auf das Leben in der Siedlung hatte jedoch die Machtüber- peter lösche_museum neuköllnnahme der Nazis, und speziell dieser Aspekt wird durch „Das Ende der Idylle?“ in den Fokus gerückt.

Einer, der in der Großsiedlung Britz geboren wurde, ist Prof. Dr. Peter Lösche, der als Parteien- und Wahlforscher bundesweit be- kannt wurde. 1935 waren seine Eltern, die SPD-Politiker Dora und Bruno Lösche, in die Fritz-Reuter-Allee 83 gezogen, 1945 zogen sie in eine Wohnung am Rande der Siedlung um. „Eine Idylle“, so Lösche, „herrschte in der Hufeisensiedlung aber auch vor 1933 nicht.“ Realistisch betrachtet könne man die Atmosphäre innerhalb der Solidargemeinschaft von Künstlern, SPD- und KPD-Anhängern bestensfalls als brüchige Idylle bezeichnen: „Die Anarchos hatten für die sozialdemokratischen Spießer nur Hohn und Spott übrig und umgekehrt war es nicht anders.“ Dennoch habe er beim „Rückspüren in der eigenen Biographie“ sehr positive Erinnerungen an die Siedlung, franziska giffey_museum neuköllnmit seinem Buddelkastenfreund Wolfgang Hempel sei er sogar nach wie vor befreundet. „Ich bin ein Brit- zer!“, konstatierte Lösche, und als solcher freue er sich über den Fortschritt in der regionalhistorischen Forschung, den die Ausstellung bedeutet und doku- mentiert.

Den Wert der neuen Erkenntnisse hob auch Dr. Franziska Giffey in ihrer Begrüßungsansprache her- vor: „Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit hat eine lange Tradition in unserem Bezirk, mit der Forschung im Vorfeld der Ausstellung konnte die Geschichtsaufarbeitung entscheidend fortgeführt werden.“ Aufgrund der guten Quellenlage sei es inzwischen möglich, die Alltagswirklichkeit und Handlungs- optionen der Menschen während des Nazi-Regimes viel differenzierter 1_großsiedlung britz-ausstellung_museum neuköllnals noch vor ein paar Jahren darstellen zu können.

Rund 80 Familien jüdischer Herkunft und 130 Künstler lebten vor 1933 in der Groß- siedlung Britz. 18 Bewohner, so die Neu- köllner Kulturstadträtin, wurden Opfer des Regimes, andere zogen weg, bevor Schlim- meres passieren konnte. Parallel dazu nahm der Zuzug von Nazis verheerende Ausmaße an: Waren es 1928 noch 128 NSDAP-Mitglieder, die in der Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung wohnten, hatte sich ihre Zahl 12 Jahre später fast verzehnfacht. Auch Adolf Eichmann, einer der Hauptorganisatoren des Holocaust, gehörte drei Jahre lang zu den Mietern: 1945 zog einer der wenigen Auschwitz-Überlebenden in statue die deutsche familie_museum neuköllnsein ehemaliges Haus in der Onkel-Herse-Straße 34.

„Das Bezirksamt Neukölln“, hielt Giffey fest, „sieht es als eine seiner wichtigsten Aufgaben an, Erkenntnisse der Geschichtsforschung für die Gegenwart und Zukunft zu nutzen.“ Niemand solle die Gewalt unterschätzen, die von den Feinden der Demokratie ausgeht, mahnte sie mit Hinweis auf „das fatale Versagen rechtsstaatlicher Struktur“ in Sachen NSU.

Dass es in Neukölln mit der Pflege eines aufmerksamen Umgangs mit der deutschen Vergangenheit nicht immer furchtbar genau genommen wurde, beweist das Standbild „Die deutsche Familie“, 2_großsiedlung britz-ausstellung_museum neuköllndas ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Im Mai 1935 wurde die Statue des Bildhauers Bernhard Butzke im Akazien- wäldchen an der Fritz-Reuter-Allee einge- weiht, erst 2001 wurde sie dort abgebaut und eingelagert. Der Kopf des Vaters sei irgendwann abhanden gekommen.

Dafür, dass die Erinnerung an Menschen, die in der Krugpfuhl- und Hufeisensiedlung wohnten, nicht abhanden kommt, sorgt die Ausstellung „Das Ende der Idylle?“. Der udo gößwald_museum neuköllnWorpsweder Maler Heinrich Vogeler lebte hier, ebenso der Künstler Stanislaw Kubicki, der Anarchist und Dichter Erich Mühsam, der Leichtathlet Rudolf Lewy sowie zahlreiche SPD- und KPD-Parteigrößen. „Mit Beginn der Nazi-Herrschaft unterlagen sie als nichtkonforme Bewohner einer sehr ausgeprägten soziale Kontrolle und nahmen große Risiken in Kauf“, unterstrich Museumsleiter Dr. Udo Gößwald.

Es sind bedrückende Details und schier unvor-stellbare Lebensgeschichten, die von nun an durch die 2 1/2-jährige Arbeit seines Teams ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. „Dieses mikrohisto- rische Projekt macht deutlich, wie wichtig heute die Forschung regionaler Museen ist“, sagte Gößwald, und er sei sehr stolz auf das Ergebnis.

Seit der Vernissage ist die Sammlung des Museums um einige Schätze reicher. „Ich habe Ihnen etwas aus dem Konvolut meines Vaters als Geschenk franziska giffey+udo gößwald+peter lösche_museum neuköllnmitgebracht“, kündigte Prof. Dr. Peter Lösche an und überreichte Gößwald eine Map- pe. Die Ebert-Stiftung habe viel zu viele von diesen Akten, meinte der Britzer: „Sie sollten gefördert werden.“ Dass Lösche – zu Gößwalds sicht- licher Irritation – ständig vom Heimat- museum gesprochen hatte, obwohl das Museum Neukölln bereits seit neun Jahren auf den zweisilbigen Zusatz verzichtet, war in diesem Moment verziehen.

Die Sonderausstellung „Das Ende der Idylle? Hufeisen- und Krugpfuhl- siedlung vor und nach 1933“ wird noch bis zum 29. Dezember im Museum Neukölln gezeigt.

Zur Ausstellung ist ein 400-seitiger Katalog (18 Euro), der die Forschungs- ergebnisse detailliert dokumentiert, sowie die Begleitbroschüre „50 Türen in die NS-Zeit“ (5 Euro) erschienen.

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