Was Neukölln mit Wetzlar verbindet

Schon seit 55 Jahren sind Neukölln und das mittelhessische Wetzlar Partnerstädte. Damit ist Wetzlar die deutsche Stadt, mit der der Bezirk die längste seiner inzwischen 13 Städtepartnerschaften pflegt. Eine Straße oder ein Platz in Neukölln wurden trotz- dem bisher nicht  nach Wetzlar benannt; dafür gibt es eine  Wetzlar-Schule, das Wetz-

gedenksteine städtepartnerschaft wetzlar neukölln

lar-Zimmer im Neuköllner Rathaus und zwei Gedenksteine vor dem Bürgeramt in Britz. In Wetzlar indes hat die Städtepartnerschaft ausladendere Spuren gesetzt: Im Stadtteil Dalheim trägt eine Parkanlage den Namen Neukölln.

Kein Spielkram: Neuköllner Theatertreffen der Grundschulen mit Gruppen aus acht Berliner Bezirken

michael assies+orchester wetzlar-schule_neuköllner mischung_18. ntt_heimathafen neukölln„Ich freue mich, dass die Hütte voll ist.“ Michael Assies, Lehrer an der Lisa- Tetzner-Schule und Organisator des Neuköllner Theatertreffens der Grund-schulen, konnte bei der Eröffnungsver- anstaltung des Festivals in restlos besetzte Stuhlreihen blicken. Sogar die Empore des Heimathafens musste geöffnet werden, damit alle Zuschauer die für den franziska giffey_neuköllner mischung_18. ntt_heimathafen neuköllnAuftakt zubereitete Neuköllner Mischung aus Theater, Tanz und Musik sitzend genießen können.

34 Gruppen aus acht Berliner Bezirken nehmen an der 18. Auflage des Neuköllner Theatertreffen der Grundschu- len teil, berichtete Schulstadträtin Dr. Franziska Giffey, fast die Hälfte – nämlich 15 – der Theater-AGs und -Klassen sind  aus Neukölln. Für alle der Schüler bedeute das Mitmachen samt der Vorbereitung ein sehr besonderes Lernen: das  durch Gefühl, Musik und Spiel.

„Theater“, bestätigte auch Sabine Hubrich, „liegt den Kleinsten im Blut“, Außerdem fördere es die Sprache und das Miteinander, schon deshalb dürfe man es „nicht als Spielkram  abtun“, führte die Lehrerin der  theaterbetonten Lisa-Tetzner-Schule in die

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Rotkäppchen-Adaption „Käppchen im Zauberwald“ ein, die sie gemeinsam mit ihren Erstklässlern auf großer Bühne aufführte. „Nutzt den ganzen Raum aus! Nehmt die Musik mit euren Körpern auf!“ Was für die zwischen Hibbeligkeit und äußerster Konzentration hin- und hergerissenen Kleinsten noch mancher Aufmunterung be- durfte, schafften die älteren Mädchen und Jungen mit Bravour. Von der Tanzgruppe der

tanzgruppe rose-oehmichen-schule_neuköllner mischung_18. ntt_heimathafen neukölln orchester wetzlar-schule_neuköllner mischung_18. ntt_heimathafen neukölln

Rose-Oehmichen-Schule (l.) über das Schülerorchester der Wetzlar-Grundschule (r.) bis zur Theater-AG der Hugo-Heimann-Schule, die mit phantastischen Kostümen, flotter Choreographie und ergreifendem Gesang  Auszüge aus ihrer Produktion  „Die

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kleine Meerjungfrau“ präsentierte. Von der Tanzgruppe der Wetzlar-Grundschule, die rund um ihr Stück „Follow Rivers“ eine mitreißende Bühnenshow ablieferte, über die

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Theater-AG der Peter-Petersen-Schule, die mit Passagen aus Kästners „Emil und die Detektive“ begeisterte, bis hin zu den Musical-Szenen  aus „Siegfried – Der Nibelun-

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tanz-gruppe rose-oehmichen-schule_neuköllner mischung_18. ntt_heimathafen neuköllngen erster Teil“, mit denen Schülerinnen und Schülern der Theater-AG und des Chors der Lisa-Tetzner-Schule brillierten, bevor Rose-Oehmichen-Absolventinnen mit der Tanzshow „Black And Gold“ den Schlusspunkt hinter eine fulminante Neu- köllner Mischung setzten.

Wer dabei war, erlebte ein knapp zwei- stündiges, facettenreiches und voller Lei- denschaft vorgetragenes Programm, das Lust auf mehr Schülertheater machte. Inzwischen ist Halbzeit des 18. Neuköllner Theatertreffens für Grundschulen: Fünf Aufführungen finale_neuköllner mischung_18. ntt_heimathafen neuköllngingen bereits im Heimathafen Neukölln über die Bühne. Ab 29. Mai wird im Gemeinschaftshaus Gropius- stadt, im Süden des Bezirks, bei sechs öffentlichen Vormittagsauf- führungen (Eintritt: 1,50 €) ein wei- teres Dutzend Stücke gezeigt: Dann gibt es auch die Gelegenheit zum Wiedersehen mit der kleinen Meer- jungfrau Miriam und ihren singenden Fischen und tanzenden Quallen.

=ensa=

Sechs von 18: verfolgt, deportiert, ermordet

stolpersteine oderstr. 52 neuköllnEs herrscht ein Wetter, wie es novembriger nicht sein könnte. Dennoch haben sich an diesem Morgen erstaunlich viele Menschen, sogar eine ganze Schulklasse vor dem Haus Oderstraße 52 im Neuköllner Schillerkiez eingefunden. Für die Kinder ist es sicher kaum, für die Erwachsenen nur schwer vor- stellbar, was sich hier im Sommer 1942 abspielte. Vor den Augen des 12-jährigen Max wird seine Großmutter „abgeholt“. Gemeint war damals damit: aus der Familie gerissen, deportiert und ermordet zu werden. Noch unbegreiflicher, dass auch Max zusammen mit seiner Mutter ein halbes Jahr später mit dem 26. sogenannten Ost- transport des Reichssicherheitshauptamts ins KZ Auschwitz deportiert wird.

Heute werden hier zum Gedenken an diese drei Menschen Stolpersteine in den Bürgersteig eingelassen: „Hier wohnte Martha Meth / geb. Lewin / Jg. 1903 / deportiert 12.1.1943 / ermordet in Auschwitz“, informiert der eine. „Hier wohnte Max Meth / Jg. 1930 / deportiert 12.1.1943 / ermordet in Auschwitz“, besagt ein anderer. gunter demnig_stolpersteine oderstr. 52 neukölln„Hier wohnte Selma Lewin / geb. Meyer / Jg. 1868 / deportiert 31.8.1942 There- sienstadt / ermordet 28.4.1944″, verrät der dritte.

Gunter Demnig arbeitet mit seinem Assis-tenten wie ein Uhrwerk, jeder Handgriff sitzt, inzwischen hundertemal ausgeführt. Nachdem die letzte Schaufel Sand in die Fugen gefegt und die demnig_wetzlar-schule_stolpersteine meth + lewin_neuköllnMessingoberflächen geputzt worden sind, kommt ein Junge, der inzwischen in Charlottenburg zur Schule geht, mit einem Strauß weißer Rosen, die er nun um die Gedenksteine drapiert. Er gehörte der Arbeitsgemeinschaft von Schülern der damali- gen 6. Klasse der Wetzlar-Schule an, die sich mit den Hintergründen der NS-Diktatur be- fasste und sich besonders für das Leben von rassisch verfolgten Kindern inte- wetzlar-schüler_stolpersteine meth + lewin_neuköllnressierte. Auf ihrem Schulfest sammelten sie Geld für diesen Stolperstein.

Der zweite Stolperstein wurde von Verwandten gestiftet, von denen drei bei dieser Gedenkstunde anwesend sind. Herr Schicke erläutert die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Opfern und veranschaulicht, wie schwer es für sie auch heute noch sei, sich diesem Teil ihrer Familien- geschichte zu nähern. Von ihm ist auch zu erfahren, dass von den insgesamt sieben Kindern der Selma Lewin weitere drei mit ihren Familien in Auschwitz oder There- sienstadt umgekommen sind. Andere konnten emigrieren, z. B. nach Argentinien, oder franziska giffey_stolpersteine oderstr. 52 neuköllnunter falschem Namen in Thü- ringen unter- tauchen. So sachlich Herr Schicke (2. v. r.) das auch schildert, so bedrückend sind die Vorstellungen, die sich damit verbinden.

Auch Dr. Franziska Giffey (r.), Bezirks-stadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport, dankte für das Interesse und das Engagement der Beteiligten. Der Schulleiterin der Wetzlar-Grundschule, Brigitte Schmidt, überreichte sie ebenso wie einer Angehörigen, stellvertretend für die Familie, das Buch „Zehn Brüder waren wir gewesen… Spuren Jüdischen Lebens in Neukölln“. demnig_stolpersteine meth + lewin_neuköllnGiffeys für die Pressearbeit zuständige Mitarbeiterin, Bärbel Ruben, hebt ebenfalls das Bürgerengagement hervor, das solche Aktionen erst ermög- licht. Der Pate des dritten Stolpersteins, der an Martha Meth erinnert, wohne in der Nachbarschaft, erzählt sie. Falls er anwe- send sein sollte, will er sich nicht zu erkennen geben. Gunter Demnig will wei- ter: Die Verlegung 18 neuer Stolpersteine hat er für den Vormittag in Neukölln auf dem Programm.

Schon für 5 nach 10 war die Stolperstein-Verlegung vor dem Haus Richardstraße 86 geplant, und fast auf die Minute pünktlich fährt ein rotes Auto vor, dem der Künstler Gunter Demnig sowie ein junger Mann entsteigen. Die Station in der Richardstraße ist bereits die vierte des Tages. Mit großer Routine und im Beisein von Beate Motel (r.) und Brigitta Polin- na, Vertreterinnen des Förderkreises Böhmi- sches Dorf in Neukölln e. V., der Pate der beiden Mahnmale ist, entnimmt Gunter Dem- nig  Steine aus Gehwegbelag und passt in den freien Platz die Stolpersteine für Karoline Basch, geb. Schütz, und Josef Basch ein.

Beide stammten aus Böhmen: Josef Basch wurde am 17. Mai 1879 in Reitschoves geboren, Karoline am 14.3.1875 in Myss. Am 17. November 1941 wurden die Neuköllner nach Kowno depor- tiert, wo die Nazis einige Monate zuvor ein Konzentrationslager errichtet hat- ten. Kauen, der Ort an dem beide acht Tage nach ihrer Deportation starben, ist eine alte deutsche Bezeichnung für die litauische Stadt Kaunas; Kowno ist deren russischer Name.

Mehr als diese nackten Zahlen sind von den Baschs bisher nicht bekannt. Es liegt jetzt an der Initiative jedes Einzelnen, weiteres über Karoline und Josef Basch zu recherchieren. Volker Banasiak vom Museum Neukölln, der bezirkliche Stolpersteine-Koordinator, nannte mir einige der Möglichkeiten der Spurensuche: Zum Beispiel seien das Brandenburgische Landes- hauptarchiv (dort die Akten des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg), die Archivalien jüdischer Gemeinden, Institutionen und Privatpersonen, Berliner Adress- bücher (verfügbar in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin), sowie die Gedenk- stätte in Yad Vashem wertvolle Quellen.

Josef Basch und Karoline Basch. Was immer sie beruflich taten, mit wem sie im Böhmischen Dorf Kontakt hatten, wer ihre Freunde waren? Wir wissen es noch nicht. Was wir wissen: Sie wa- ren Bürger von Neukölln.

Dem Initiator der Stolpersteine, Gun- ter Demnig (r.), konnte ich noch einige Fragen stellen. 1993, erzählt er mir, habe er die Idee gehabt, durch Stol- persteine an Verfolgte der NS-Zeit zu erinnern. Ab 1996 verlegte er die ers- ten illegal im Berliner Bezirk Kreuz- berg, legitimiert wurde das Projekt erst im Jahr 2000. Seitdem werden die Stolper- steine von ihm das ganze Jahr über verlegt. Einzig Minustemperaturen unter 9 Grad, sagt er, könnten seine Arbeit verhindern. Da störte dann der Regen gleich weniger.

Eine knappe halbe Stunde später erreichen Gunter Demnig und sein Zwei-Mann- Team das sechste Etappenziel in Neukölln: Bis zum Oktober 1940 lebte Paul Fürst in der 3. Etage des Hauses in der Bruno-Bauer-Straße 17a. Dass nun ein Stolperstein an ihn erinnert, ist dem Verein  proNeubritz  zu verdan- ken, der die Patenschaft für das Messing-Mahn- mal des Mannes übernahm, der „wegen politi- scher Unzuverlässigkeit“ ermordet wurde.

Paul Fürst war zunächst Justizangestellter ge- wesen, machte sich aber später selbstständig und gründete den Neukultur- und den Kosmos-Verlag. Schon 1920 war er in die SPD eingetreten und bis zum Verbot der Partei im Jahr 1933 ihr Mitglied. Weil Fürst „so- zialistische und wissenschaftliche Bücher“ vertrieb, wurde er 1938 mit einem Berufs- verbot belegt. Zwei Jahre später beschlag- nahmte die SA den kompletten Bücher- bestand, und die Gestapo nahm Paul Fürst wegen ille- galer Arbeit in „Schutz- haft“. Nach einigen Tagen wurde er  in das KZ Sach- senhausen eingeliefert, wo er am 6. Juni 1941 um 18.30 Uhr starb. Als Todesursache nennt die vom Lagerarzt ausgestellte Todesbescheinigung, die auch in der Publikation „Widerstand in Neukölln“ dokumen- tiert ist: doppelseitige Lungenentzündung und Kreis- laufschwäche.

Bei anderen Anga- ben hätten sich die Nazi ebenfalls viel Mühe gegeben, durch absicht- lich verfälschte Daten die Spurensuche nach Geg- nern des Regimes zu erschweren, sagt Bertil We- wer vom proNeubritz-Vorstand. So werde im Ster- bebuch des Standesbeamten Paul Fürsts alte Ge- schäftsadresse in der Gontardstraße 2 als Wohn- ort genannt: „Sehr wahrscheinlich lebten aber außer Paul Fürst auch seine Mutter, seine Schwes- ter und sein Bruder während der NS-Zeit hier in der Bruno-Bauer-Straße.“ Fürsts Schwester starb, wie Recherchen des Vereins ergaben, bruno-bauer-str. 17a_neuköllnim Dezember 1944, die Mutter, die als Opfer des Natio-nalsozialismus anerkannt wurde, am 14. März 1947. Eine Entschädigungszahlung blieb Paul Fürsts Bruder Wilhelm verwehrt, der später in Moabit wohnte und bis zu seinem Lebensende unter den Folgen des Nazi-Regimes litt. „Was von 1933 bis 1945 in Deutschland den Menschen an Verbrechen und Unmenschlichkeiten angetan wurde, hat auch Gott erzürnt und er wird den Schuldigen nie ver- geben, niemals“, hielt er schriftlich fest.

„Wir gehen jetzt weiter zur Jahnstraße 12, wo der proNeu- britz einen weiteren Stolperstein für Karl Tybussek ver- legen lässt. Danach werden wir die älteren Stolpersteine in Neubritz reinigen“, kündigte Wewer zum Abschluss der Gedenkzeremonie vor Fürsts Wohnhaus an. „Scheiß- wetter!“, brummelt Gunter Demnig und setzt sich zu seinem Assistenten und seinem Fahrer ins Auto. Nachdem der 18. neue Stolperstein weiter im Süden Neuköllns verlegt ist, setzt er seine Mission in anderen Berliner Bezirken fort.

=kiezkieker / Reinhold Steinle / ensa=

Bereits erschienene Beiträge über Stolpersteine im FACETTEN-Magazin: hier!