Schatzsuche mit Neuköllns Bezirksbürgermeisterin

giffey_steinle_neuköllner schätzeDie Frau, die Sonntagnachmittag mit Stadt-führer Reinhold Steinle und einer Gruppe von knapp 20 Leuten durch den Kiez rund um den Richardplatz spazierte, sah nicht nur aus wie Neuköllns Bezirksbürgermeisterin, nein, sie war es. Um Neuköllner Schätze vorzu-stellen, die es neben hinlänglich bekannten Problemen im Bezirk auch gebe, hatte Dr. Franziska Giffey zu einer Kiez-Expedition ein-geladen. Auf dem Programm standen die Be-sichtigungen des Böhmischen Gottesackers, des Familienunternehmens Kutschen-Schöne, der traditionsreichen Rixdorfer Schmiede, des vor 10 Jahren Weiterlesen

Von einem roten Mercedes 300 SL, Kartoffelläden, Trümmerbergen und einer Kindheit und Jugend in der „Topgegend von Neukölln“

schillerpromenade 42_neukölln„Da oben haben wir gewohnt.“ Ralf Lambertz zeigt zur ersten Etage des Hauses Schillerpromenade 42. Wir, das waren die Eltern und seine beiden Schwestern. In einer 2-Raum-Wohnung lebten damals alle. „Aber schon mit schillerpromenade_selchower straße_neuköllnBad!“, fügt er gleich noch dazu. In dieser Wohnung verbrachte der heute 73-Jährige die ersten 22 Jahre seines Lebens. Erst 1963 zog er dort aus: „Meine Eltern waren wohl um 1938 eingezogen und wohnten noch bis zum Jahr 1972 in der Schillerpromenade 42.“ Lambertz schaut sich überrascht um. Seit Jahren war er schon nicht mehr am Ort seiner Kindheit und Jugend. „An der Ecke zur Selchower Straße gab es damals ein Le- bensmittelgeschäft, wo man – wie fast überall – anschrei- ben lassen konnte, und im Parterre unseres Hauseingangs war erst ein Kartoffelladen und dann ein Klempner.“ Heute ist eine Weiterlesen

Einladung zum Kürzertreten

Die Verlockungen lauern momentan überall. Wohin man auch kommt: Teller mit Plätz- chen, Marzipankartoffeln und -broten, Fondantkonfekt, Pralinés und Schokoweih- nachtsmännern sind schon da. Bei den Hauptmahlzeiten etwas kürzer zu treten und auf schwere Kost zu verzichten, kann also nicht schaden. Auf alle, die das beherzigen

tagesgericht glühwein_neukölln

und sich sagen „Das bisschen, das ich esse, kann ich auch trinken!“, setzt nun ein Neuköllner Gastronom. Na dann: Guten Appetit bzw. Prost! Auf der Abendkarte steht bestimmt als Hauptgericht: Feuerzangenbowle.

Tummelplatz Richardplatz

1_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnWer in der Adventszeit ein Pendant zu Weih- nachtsmärkten mit Fahrgeschäften, Los- und Imbissbuden, dröhnender musikalischer Be- schallung und Ständen mit bunten blinkenden Lichterketten sucht, findet das an diesem Wo- chenende auf dem Neuköllner  Richardplatz.

Gestern Nachmittag wurde dort zum 40. Mal der Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt eröffnet: buschkowsky_eröffnung alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnvon Neuköllns Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, der kraft seines Amtes auch morgen wieder auf der Bühne steht, um sich bei der tra- ditionellen Versteigerung herber Re- bensäfte aus Neukölln als Auktionator zu betätigen.

Überhaupt werden Traditionen beim bedeutendsten Weihnachtsmarkt im lampen-abholung_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnBezirk groß geschrieben. Zur Beleuchtung der Stände dienen Petro-leum-Lampen. „250 halten wir bereit“, sagt der Mann im THW-Zelt, wo die  Laternen abgeholt  werden müssen. Die

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2_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnSchlange der Wartenden reicht bis zur Bühne. Ent- sprechend düster ist es noch an vielen Ständen. Zwei Besucherinnen, die erstmals am Eröffnungstag auf dem Weihnachtsmarkt sind, sind irritiert. Am zweiten und dritten Tag sind die Auswirkungen des sich wie- derholenden Prozederes der Lampen-Abholung ver- gleichsweise unauffällig, weil der Weihnachtsmarkt dann bereits am frühen Nachmittag, wenn es noch hell  ist, öffnet. „Könnte  man das denn  nicht so organisieren, dass  alle  Stände  be-

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5_stände_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnmisteln_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neukölln1_stände_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neukölln

leuchtet sind, wenn die Besucher kommen?“, fragen sich die beiden Frauen, die extra aus Spandau angereist sind. Für die Leute hinter den noch dunklen Ständen sei es doch ärgerlich, dass sie ihre schönen Sachen erst mit Verspätung vernünftig prä- sentieren können.

Die Leute hinter den Ständen sind beim Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt keine gewerb- lichen Händler, sondern – auch das hat Tradition – gehören Vereinen, karitativen Einrichtungen, Verbänden und Initiativen. Für viele von ihnen ist der Verkauf von Selbstgebasteltem,  -getöpfertem, -gestricktem, -genähtem, -gemaltem,  -gekochtem

richardplatz 8_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnkutschen-schöne_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllngewerbehof villa rixdorf_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neukölln

und -gebackenem in der einzigartigen Atmosphäre des Weihnachtsmarktes auf dem Richardplatz eine der wichtigsten Einnahmequellen für ihre Arbeit. Trotz der nicht un- beträchtlichen Standmiete, die der Bezirk als Veranstalter erhebt. Von über 300 Euro dorfkirche_alt-rixdorfer weihnachtsmarkt_neuköllnist die Rede; wird beispielsweise für das Erhitzen von Getränken Strom gebraucht, kommt ein Aufschlag dazu. Der habe schon in man- chem Jahr mit unwinterlichem Wetter richtig weh getan, sagt ein Mann hinter zwei dampfenden Töpfen. „Aber jetzt bei Schnee und Frost werden Glühwein und Kinderpunsch die Renner sein“, prognostiziert er.

Der Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt ist noch heute von 14 bis 21 Uhr und morgen  von 14 bis 20 Uhr geöffnet.

=ensa=

Gipfeltreffen am Neuköllner Richardplatz

weltfriedenswanderer stefan horvath, frank zander, cbs rixdorf, neukölln„Alle Achtung vor dem, was du machst, aber für mich wäre das nichts“, stellt Frank Zander an- erkennend fest. „Dit würden meine Beene nicht mitmachen.“ Gerade hat der 70-Jährige von Stefan Horvath erfahren, wel- ches Pensum der für seine Mission absolviert. Der kleine, drahtige Mann nennt sich Welt- friedenswanderer, seit er vor mehr als zwei Jahrzehnten sei- nen Job als Bauunternehmer, das geregelte Einkommen und die Vorzüge eines konventionellen Lebens in Wien hinter sich gelassen hat. Seitdem führt der heute 54-Jährige ein Nomaden-Dasein und schläft – statt im eigenen Bett – immer woanders. „Aber Berlin/Brandenburg ist schon so etwas wie weltfriedenswanderer stefan horvath, cbs rixdorf, werkschau frank zander, neuköllnmeine Homebase“, sagt er.

Die Zahlen, die Horvath nennt, beeindrucken – auch Frank Zander. Bis zu 100 Kilometern schaffe er am Tag, rund 49.000 Kilometer habe er bisher insgesamt in seiner Laufbahn als Weltfriedenswanderer  zurückge- legt und dabei 42 Paar Schuhe verschlissen. „Und was machst du, wenn du neue brauchst?“, erkundigt sich Zander. Dann gehe er in ein Sportfachgeschäft und frage den Geschäftsführer, ob er das Laufen für den Weltfrieden nicht mit einem neuen Paar Wanderstiefel unterstützen will. So sammle er sich seine komplette Ausstattung, Lebensmittel und auch sein Taschengeld zusammen. Letzteres benötige er, um nicht in Parks oder unter Brücken schlafen zu frank zander-werk mit widmung, weltfriedenswanderer stefan horvathmüssen: „Das wäre mir zu hart und zu gefährlich.“ Diesen Rest Komfort will der Österreicher sich in seiner selbstgewählten Askese erhalten.

Wenn es um andere Menschen geht, ist Stefan Horvath das Gegenteil von bescheiden. Genau wie Frank Zander, der sich seit 1995 für Obdachlose einsetzt, immer auf der Suche nach Sponsoren für das alljährliche Obdachlosenfest ist und jüngst die Spendensammlung für das Caritas-Arztmobil un- terstützte. Wegen dieses Engagements wollte der Weltfriedenswanderer ihn auch unbedingt kennen lernen, nicht wegen der Erfolge als Sänger und Entertainer. So entstand die Idee, für den Karfrei- tagnachmittag ein Gipfeltreffen der beiden Altruis- ten in der CBS-Rixdorf-Galerie am  Richardplatz frank zander-werk "musik bading", cbs rixdorf, neuköllnzu organisieren, wo eine Werkschau Zanders Talent als Maler und Grafiker zeigt. Es sind vor allem die dort ausgestellten Ham- burg-Motive, die es Stefan Horvath angetan haben. „Hamburg“, erzählt er, „ist meine nächste Station.“

Das anschließende Gespräch über die Spenden- sammelei gleicht einem Crash-Kurs für angehende Fundraiser: Bei Kreativen habe man es leichter, weil die meist sozialer seien, ist Frank Zanders Erfahrung. Horvath stimmt ihm zu. Bei der Spendenakquise in großen Unternehmen greife er zu einem anderen Trick: „Denen mach ich ein schlechtes Gewissen.“ Horvath grinst. Sein Stichwort „Weltfrieden“ sei schon etwas wie eine Trumpfkarte: „Wer will den nicht?“ Abgesehen vielleicht von allen, die von einer guten frank zander-werk "apfel vor venedig"Auftragslage  der Rüstungsindustrie profitieren. Zu- dem helfe ihm beim karitativen Einsatz für seine Projekte, die von Krankenhausbetten für Afrika über Kinderhilfe in Osteuropa bis hin zum Anti-Nazis-Engagement in Deutschland reichen, natürlich die Popularität, die ihm als Weltfriedenswanderer zuteil wird.  Frank Zander nickt: „Aber das Wichtigste ist doch, dass man seine Ideen verwirklicht. Und das vehement.“ Wenn jeder in seiner Form helfe und alle, die etwas abgeben können, die Freude am Abgeben für sich entdecken würden, wäre schon vielen geholfen, sind beide überzeugt.

Stefan Horvath muss weiter. Stolz verstaut der Rastlose den „echten Zander im wandergepäcktauglichen Kleinformat“ mit der persönlichen Widmung, die ihm „viel cbs rixdorf, werkschau frank zander, frank zander mit fans, neuköllnGlück beim Loofen“ wünscht, in seinem Rucksack. „Wir sehen uns wieder!“, versprechen sie sich zum Abschied.

Gesehen wurde inzwischen auch von vielen Passanten, dass der Meister höchstselbst zwischen seinen Kunst- werken anzutreffen ist. Mancher nutzt die Gelegenheit, sich eine handsig- nierte CD zu kaufen. Mit anderen entwickeln sich spannende Gesprä- che über die Vergangenheit, den Ist-Zustand und die Zukunft des Kiezes. Frank Zander, der hier seine Kindheit verbrachte, kennt ihn bestens. Nebenan in der Villa Rixdorf, erzählt er, habe er seinen 70. Geburtstag gefeiert, den er eigentlich – wegen des Bammels vor der 7 – gar nicht feiern wollte: „Dann war’s aber richtig schön und nach 10 Minuten war die Zahl vergessen.“ Sie habe schon für nachher einen Tisch reserviert, sagt seine Frau Evi. „Ohne Fleisch leben, wie Stefan, das könnte ich ja auch nicht“, gibt Frank Zander zu. Es ist also nicht nur eine Frage der Beine.

=ensa=

Stroh ’n‘ Roll

popraci rixdorfer strohballenrollen, neuköllnDass am zweiten Advents- wochenende kein Durch- kommen auf dem Richard- platz ist, wussten sie. Ebenfalls, dass der Platz rund um die Rixdorfer Schmiede während des Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“  mehr Trubel als histori- sche Idylle zu bieten hat. Was seit 2008 immer am zweiten Septembersams- tag in der guten Stube des Bezirks stattfindet, das war allerdings bisher nicht bis zu ihnen in den Ortsteil Rudow tief im Süden Neuköllns vorgedrungen: „Wir haben übers Wochenende Besuch aus Westdeutschland und wollten denen den Richardplatz und das Böhmische Dorf zeigen und danach auf der Terrasse der Villa Rixdorf was essen.“ Nun steht das Rentner-Paar aus dem Süden Neuköllns am westlichen Eingang zum Richardplatz und blickt ebenso irritiert wie die beiden Besucher aus Bonn auf das Treiben.

Kinder bewerfen sich gegenseitig mit Stroh, eine Männerstimme mit schwäbischem Zungenschlag  schallt  durch   den   Kiez,  kostümierte   Erwachsene  rollen  in  Vierer-

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Teams riesige, über 200 Kilo schwere Strohballen über die kopfsteingepflasterte Straße, die den Platz umgibt. „Was soll das? Weshalb machen die das?“, fragen die auswärtigen Gäste ihre Gastgeber, bekommen aber nur ein Schulterzucken samt einer Gegenfrage: „Aus Jux und Dollerei?“. Das sei Popraci, das Rixdorfer Stroh- ballenrollen, ein traditioneller Wettkampf, der nun schon zum 178. Mal ausgetragen werde, mischt sich ein Mann mit einem Kind auf den Schultern ein, der hinter den bei-

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den Paaren steht und ihren kurzen Dialog mitbekommen hat. „Buschkowsky“, ergänzt er, „hat das Fest vorhin eröffnet.“ Was Traditionelles also, wiederholt die graumelierte popraci rixdorfer strohballenrollen, neukölln, heinz buschkowsy, christoph agi böhm, rudolf jindrakRudowerin bestimmt.  Dass der Neuköllner Bezirksbürgermeister mitten im Wahlkampf für einen Auftritt bei einem Jux-und-Dollerei-Wett- bewerb gewonnen werden kann, scheint für sie außerhalb des Vorstellbaren zu liegen. „Lasst uns mal gucken, ob das Remmidemmi bis zur Schmiede geht“, schlägt ihr Mann vor. Dem Begleiter aus Bonn ist deutlich anzusehen, dass hinter seiner Stirn die eben gehörten popraci rixdorfer strohballenrollen, neukölln, reinhold steinleInformationen skeptisch verarbeitet werden.

Großartig, einfach nur großartig und wunderbar findet eine junge Familie vom Bodensee das Fest. Die Eltern halten ihre Tochter, die Stroh in den Haaren und sich das Gesicht bemalen lassen hat, an den Händen und stehen im Zielbereich, wo Moderator Reinhold Steinle im für sie vertrauten Idiom erschöpfte Wettkämpfer interviewt. Der einzige Kritikpunkt betrifft das Personal des Estrel Hotels, wo die Touristen aus dem Schwäbischen für ein verlängertes Wochenende logieren: „Mit keinem Wort haben die das Strohballenrollen erwähnt, als wir heute Morgen an der  Reception gefragt  haben, welche  kindgerechten Veranstaltungen  es  gerade  in

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Berlin gibt. Dabei findet das doch fast vor der Haustür statt.“ Auf der Suche nach einem Spielplatz in Hotelnähe seien sie dann in das Rixdorfer Strohballenrollen am Richardplatz geraten. „Wo ist denn die nächste Apotheke, die noch offen ist?“, er- kundigt sich der Mann. Er brauche dringend ein Antiallergikum.

=kiezkieker/ensa=