Azubis des Neuköllner Grünflächenamtes sanierten und bepflanzten Ehrengrab von Reinhold „Krücke“ Habisch auf dem St. Thomas Friedhof

Bald hundert Jahre ist es her, dass der radsportbegeisterte Reinhold Habisch als Berliner Original im Schöneberger Sportpalast in die Geschichte des Sechstagerennens einging. Habisch wäre selbst gerne Radrennfahrer geworden, doch bei einem Verkehrsunfall mit einer Straßenbahn verlor er als 16-Jähriger ein Bein. Er war fortan auf Gehstützen angewiesen, weshalb er den Spitznamen „Krücke“ bekam. Beim Sechstagerennen, über das die Reporterlegende Egon Erwin Kisch 1925 die noch heute lesenswerte Milieustudie „Und dann brüllt das Publikum: ‚Hipp, hipp!‘“ schrieb, sorgte „Krücke“ auf dem sogenannten Heuboden unter dem Dach für Stimmung und wurde allmählich zur schillernsten Figur der Veranstaltung. Berühmt machten ihn vier schrille Pfiffe, mit denen er einen Walzer untermalte, den der Kapellmeister des Weiterlesen

Stiftung plant zwei Neubauprojekte für gemeinnützige Initiativen in Neukölln

Das Erscheinungsbild der Hermannstraße in Höhe des U-Bahnhofs Leinestraße wird sich bald stark ändern, denn für die Flächen der drei Friedhöfe St. Thomas (neu), Jerusalemskirchhof V und St. Jacobi, gab der Evangelische Friedhofsverband Berlin Stadtmitte (EVFBS) im Jahr 2015 ein Gutachten zur Nutzungsänderung, das „Integrierte Friedhofsent-wicklungskonzept“ in Autrag.

Nachdem der Bundesverband Deutscher Garten-freunde Ende Januar in der Kapelle auf dem St. Thomas-Friedhof erklärt hatte, dass er an der Hermannstraße sein Bundeszentrum bauen wird, lud die Schöpflin Stiftung jetzt an denselben Ort ein, um ihre Ambitionen Weiterlesen

Großes Fest vor Zwangspause und Seitenwechsel

Rund 65 Jahre lang war das 1884 gegründete Traditionsgeschäft Zauberkönig in der Neuköllner Hermannstraße direkt am U-Bahnhof Leinestraße in einem Nachkriegsbau untergebracht. Nun wird der baufällige Flachbau abgerissen.

Der Vorsitzende des Evangelischen Friedhofsver-bandes Stadtmitte hat den Inhaberinnen des Zauberkönigs, Karen German und Kirsi Hinze, einen neuen Geschäftsstandort direkt gegenüber auf dem Gelände des St. Thomas Friedhofs angeboten. Der Friedhofsverband baut dort, unmittelbar neben der geplanten Geschäftsstelle des Weiterlesen

„Neukölln hat einen Park geschenkt bekommen“

1986, mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem Anita Berber auf dem St. Thomas-Friedhof bestattet wurde, fand dort die letzte Beerdigung statt. Drei weitere Jahrzehnte dauerte es, bis das Gräberfeld entwidmet werden konnte, und seit gestern Mittag ist das 66.000 Quadratmeter große Gelände an der Hermann-straße offiziell ein nach Anita Berber benannter Park.

Grundlage für die Umgestaltung war ein Abkommen, das im Gegenzug für den Bau der Stadtautobahn A100 die Erschließung von Ausgleichs-grünflächen vorschreibt. Folglich wurde der Anita-Berber-Park  Weiterlesen

Mal schon nah, mal noch fern: Welche Veränderungen stehen dem Neuköllner Schillerkiez bevor?

plakat_zukunftswerkstatt-schillerkiez_neukoellnDas Interesse an der Zukunft des Schillerkiezes, die am vergangenen Sonnabend auf Einladung des Quartiers-managements in den Räumen der Kinderwelt am Feld erörtert wurde, war eher dürftig. Die Gegenwart in Form eines milden, sonnigen Septembertages verschaffte dafür dem Tempelhofer Feld umso mehr Andrang.

Wie wird es im Kiez zwischen Columbiadamm und Silbersteinstraße, Tempelhofer Feld und Hermann-straße in fünf oder 10 Jahren aussehen? Was wird geplant, um den Engpass auf dem Wohnungsmarkt zu entzerren und die Kapazitäten der Schulen zu erweitern? „Die wichtigsten Veränderungen wird es auf den Friedhöfen an der Hermannstraße geben“, kündigte Rolf Groth. Nur noch ein kleiner Teil werde Weiterlesen

Würdiger, feierlicher Abschied auf dem St. Thomas-Friedhof

gedenkstelle rolf schmitti schmitt_boddinplatz neuköllnDie Bank auf dem Boddinplatz, auf der Rolf „Schmitti“ Schmitt am 11. August starb, ist immer noch mit letzten Grüßen, Blumen und Kerzen geschmückt. Die Urne mit der Asche des Mannes, dessen Zuhause die Bank war, wurde am vergangenen Dienstag auf dem Neuköllner St. Thomas-Friedhof beigesetzt – so würdig und feierlich, wie es sich die Nachbarn und Bekann-ten gewünscht und durch Spenden ermöglicht hatten. „Es waren um die 30 Leute bei der Be-erdigung“, sagt Bernd Volkert vom Café Laidak, wo die Spendensammlung und alles Organisa-torische koordiniert wurde. Am Grab wurde musiziert und mit drei Wortbeiträgen an den verstorbenen Obdachlosen erinnert. „Alle“, so Volkert, „fanden den Ablauf in ruhiger Trauer und Gedenken sehr angemessen.“ Das eingesam-melte Geld, das nicht mehr für die Bestattungskosten benötigt wurde, wird „vermutlich an die offene Drogenarbeit gespendet“.

Ehemaliger Neuköllner Friedhof soll vom Paradies für Hunde zur „naturnahen Grünfläche“ für alle werden

west-zugang _st. thomas friedhof_neuköllnWenn die Planungen vom Spätsommer 2011 realisiert worden wären, wäre schon seit drei Jahren ein haupteingang_st. thomas friedhof_neuköllnZeltplatz auf dem stillge-legten Teil des St. Thomas Friedhofs. Wurden sie aber nicht. Deshalb ist die Situa- tion auf dem Areal zwischen Hermannstraße und Tempel- hofer Feld unverändert: Dea- ler aus der U8, Wild-Camper und -Sperrmüllentsorger, Schüler der benachbarten Carl-Legien-Schule, Hundebesitzer und ihre Vierbeiner – jeder weiß den ehemaligen Friedhof nach wie vor aus unterschiedlichsten Gründen zu schätzen. Was sich jedoch verändert hat, ist, dass die Bäume und Büsche gewachsen sind und Weiterlesen

Wanderung zu Orten des Abschieds in Neukölln

gradwanderung neukoellnSchon über den Namen der Veranstaltung stolperten manche: „Gradwanderung“. Es hätten einige Leute angerufen, um  darauf hinzuweisen, dass zwischen a und w ein t und kein d  gehöre, sagt Sophia Trier vom Fachbereich Kultur des Bezirksamts Neu- kölln, der den „Spaziergang zu Orten des neuer luisenstädtischer friedhof neuköllnAbschieds“ veran-staltet. Eigentlich war ihre Telefonnummer nur angegeben worden, um Anmeldungen für die Tour zentral sammeln zu können. Nun ist bei ihr nicht nur zu erfahren, dass man ein BVG-Ticket bzw. Kleingeld dafür mitbringen sollte, sondern auch, dass der vermeintliche Schreibfehler keiner ist: Weiterlesen

Neukölln ist „stark überversorgt“, soll es aber nicht bleiben

st.thomas kirchhof_neukölln„Gestorben wird immer“ war nicht nur der deutsche Untertitel der preisgekrönten amerikanischen TV-Serie „Six Feet Under“. Es ist auch ein Bonmot der Be- statterbranche, die allerdings in Berlin schon bessere Zeiten erlebt hat: Lag die Sterberate, d. h. die Quote der Sterbefälle pro 1.000 Einwohner und Jahr, vor 40 Jahren in der Hauptstadt noch bei 18,1 ‰, so hat sie sich heute bei 9 ‰ eingependelt.  Das und der Wandel der Bestattungskultur, die gegenwärtig 80 % Urnen- bestattungen verzeichnet, führten dazu, dass sich der jährliche Friedhofsflächenbedarf gegenüber 1980 um mehr als die Hälfte verringert hat. Infolgedessen entwarf der Berliner Senat vor acht Jahren einen Friedhofsentwicklungsplan und beschloss, dass 290 Hektar der insgesamt 1.037 Hektar messenden Friedhofsflächen in der Stadt kurz-, mittel- oder langfristig „einer anderen Nutzung zugewiesen werden“ Weiterlesen

Geschichte ausgraben

archäologische grabungen_friedhofslager neuköllnEvangelische Kirchengemeinden aus ganz Berlin betrieben von April 1942 bis zum Kriegsende 1945 auf dem Kirchhof der Jerusalemsgemeinde in der Neuköll- ner Hermannstraße 84 ein Friedhofs- lager mit Zwangsarbeitern. Es war das einzige Zwangsarbeiterlager in ganz Deutschland, das von der Kirche ge- plant, finanziert und betrieben wurde. Die Hauptaufgaben der Lager-Insassen waren die Friedhofspflege und das Ausheben von Gräbern. Seit Montag und noch bis Ende nächster Woche legen nun unter dem Motto „Geschichte ausgraben“ freiwillige Helfer und Archäologen unterstützt von der Arbeitsstätte Erinnerungskultur im Ev. Landeskirchlichen Archiv die Fundamente der Baracken des Weiterlesen

Letzter Tag und letzter Talk im Junipark

junipark_berlin-neuköllnOft liegen Welten zwischen dem Ist- Zustand und dem, der erwünscht wäre. Die Wirklichkeit mit ihren Be- gebenheiten und Zwängen stellt sich erbarmungslos vor Visionen, ver- hängt den Blick auf individuelle Be- dürfnisse oder katapultiert sie gleich ganz ins Nirwana. Auch so Elemen- tares wie das Wohnen durchläuft in Berlin zunehmend diesen Prozess. Aber muss das wirklich so sein? Damit beschäftigte sich kürzlich eine Talkrunde im Junipark in Neukölln, der heute letztmalig öffnet und Weiterlesen

Finsteres Erbe von Berliner Gemeinden in Neukölln freigelegt

st. thomas friedhof_neuköllnRechts neben dem ehemaligen Blumenladen in der Hermannstraße durch das Portal, vorbei an der neo-gotischen Kirche, die seit inzwischen 10 Jahren von der Bulgarischen Orthodoxen Ge- meinde bulgarische orthodoxe gemeinde_jerusalem-kirchhof neuköllngenutzt wird, und dann über 300 Me- ter immer geradeaus. Wer diesen Weg hinter sich hat, steht dort, wo 39 evangelische und drei katholische Gemeinden während der NS- Zeit das einzige kirchliche Zwangsarbeiter- lager betrieben.

Für über 100 aus der damaligen Weiterlesen

Verschleppt. Getreten. Beschimpft. Bedroht.

kreuzAnlässlich des Berliner Themenjahrs „Zerstörte Vielfalt“ ist die Konfron-tation mit den immer wieder unfass- baren Gräueltaten innerhalb der Dutzend Jahre braunen Terrors groß. Dass sogar die Evangelische Kirche daran beteiligt war, indem sie ver- steckt im hinteren Teil des Fried- hofs der Jerusalems- und neuen Kir- che V an der Neuköllner Netzestraße von 1942 bis 1945 ein Zwangsarbeiterlager betrieb, ist kaum zu glauben. Über 40 christliche Gemeinden (38 evangelische und 3 katholische) waren daran beteiligt und ließen auf säulenrest_ns-zwangsarbeiter_neuköllnihren Friedhöfen über hundert aus der besetzten Sowjetunion verschlepp- te männliche Zivilisten als Totengräber schuften.

Bis vor zwei Wochen erinnerten eine Infor-mationssäule und ein Gedenkstein nahe dem Eingang dieses Friedhofs daran. Heute ist dieser Platz verwaist und nur noch der Sockel und ein Kranz aus Kieseln weist darauf hin, dass hier mehr gewesen sein muss.

Begibt man sich allerdings in den Teil, in dem die Wohn- und Wirtschaftsbaracken gestanden haben, trifft man auf eine etwas schief stehende Tafel, auf der u. a. zu lesen ist: „Hier standen von August 1942 bis April 1945 die Baracken eines hinweistafel_gedenkort zwangsarbeiterlager_neuköllnkirchlichen Zwangsarbeiter- lagers. (…) Wegen mangel- hafter Ernährung litten sie unter Hunger und Krankhei- ten. Kranken wurde in eini- gen Fällen Arbeitsverweige- rung unterstellt. Das bedeu- tete Einweisung in ein »Ar- beitserziehungslager« oder KZ. (…) Bei den häufigen Bombardements des an- grenzenden Flughafens durften die Insassen des Lagers als besonders gekenn- zeichnete »Ostarbeiter« keine Luftschutzkeller benutzen. (…) Das Lager wurde drei Mal von Bomben getroffen und brannte am 29. April 1944 nieder. Auch wenn es bei diesem Angriff, da er tagsüber erfolgte, keine Todesopfer gab, wuchs die Angst. Das Lager wurde 1944 nach der Zerstörung hinweistafel_ausstellung ns-zwangsarbeit_neuköllnnotdürftig wiederaufgebaut. Die Befreiung er- folgte am 24. April 1945 durch die Rote Armee.“

Dann ein weiteres Schild. Und wer am letzten Sonntagnachmittag diesem Hinweis folgte, traf nicht nur auf den Ausstellungspavillon, sondern auch auf Gerlind Lachenicht und eine kleine Gruppe weiterer Menschen, die der Einladung von Cross Roads gefolgt waren und ns-zwangsarbeiter-pavillon_neukölln„Berlin mit anderen Augen“ sehen wollten. Das nämlich verspricht dieses Stadtspa-ziergangsprogramm, das sich insgesamt 19 verschiedenen Themen widmet und so auch dem, der diesem Beitrag die Über- schrift gab.

Gerlind Lachenicht ist hauptamtliche Mitar-beiterin des Landeskirchlichen Archivs und dort für das Forum für Erinnerungskultur der EKBO (Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz) tätig. An diesem Tag war sie zusätzlich fürsorgliche Gastgeberin im Ausstellungspavillon auf dem St. Thomas-Friedhof und in jeder Hinsicht kompetente Spaziergangs-führerin gerlind lachenicht_crossroads_neuköllnmit großem Engagement, das nicht zuletzt daran festzumachen war, das sie die vorgesehen 1 ½ Stunden schlicht- weg verdoppelte.

Anhand der Ausstellungstafeln zeichnete sie das Schicksal derjenigen Insassen nach, die sie ausfindig gemacht und zu denen sie Kontakt herstellen konnte. Von ihr ist auch zu erfahren, dass erst im Jahr 2000 klar wurde, welche Rolle die Kirchengemeinden in diesem Zusammenhang gespielt haben, und welchen Schock das in Kirchenkreisen auslöste. Eine weitere erschreckende Erkenntnis war die, dass die Zwangsarbeiter selbst nicht wussten, dass sie für kirchliche Einrichtungen arbeiteten, was wiederum deutlich macht, dass sie keinerlei seelsorgerische Begleitung durch die Pfarrerschaft erfuhren. Es war allerdings auch das einzige Lager, das von der Kirche geplant, aufgebaut und über Jahre verantwortet wurde.

Was die Zwangsarbeiter durchmachen mussten, ist unter Anlegung heutiger Maß- stäbe unvorstellbar. Am Schlimmsten muss der Hunger gewesen sein. Und wer denkt, dass die Überlebenden durch die Rote Armee „befreit“ wurden, irrt. Denn zurück in der Heimat, wurden sie als Kollaborateure geschmäht, weil sie für Deutsche gearbeitet und nicht gegen diese die Waffe erhoben hatten. Dass dennoch die einzelnen Lebenswege ganz unterschiedlich verliefen, lässt Gerlind Lachenicht crossroads-gruppe_neuköllndurch ihre ergreifenden Schilderungen deutlich werden.

Beim anschließenden Gang über den Friedhof finden sich auch Gedenkstein und Infosäule wieder, die bewusst in die Nähe Ausstellungsraumes gebracht wurden, weil die geschäftige Hermannstraße ein zu stark trennendes Element gewesen sei. Und nun werden auch die Gestaltung und Funktion dieses Findlings erläutert:

Nachdem die oberste Ebene mit dem Sinnbild des Deckelhebens abgenommen worden war, ging es darum, einen geeigneten Sinnspruch zu finden. Man einigte sich gedenkstein_ns-zwangsarbeiter_neuköllnauf: „Der Gott, der Sklaven befreit, sei uns gnädig.“ Aus dieser zweiten Ebene ist dann für jede der beteiligten Gemeinden ein Stein mit ihrem Namen geschnitten worden, die die meisten von ihnen an einem würdigen Ort – z. B. dem Altar – aufbewahren. Jährlich am Volks-trauertrag findet eine Gedenkfeier statt, zu der Vertreter der jeweiligen Gemeinde mit ihrem Stein zusammenkommen, um ihn auf seinem Platzhalter auf der dritten Ebene zu crossroads-führung_gerlind lachenichtplatzieren. Diese Feier wird jeweils von Ange- hörigen der Evangelischen Schule Neukölln gestaltet.

Ein Schüler dieser Schule war es auch, der 2008 beim Besuch des ehemaligen Zwangs-arbeiters Wassili Miljutin, in dessen Dorf in der Ost-Ukraine einen Film mit dem Titel „Eine Reise durch die Ukraine“ gedreht hat. Dieser Film kann in der Ausstellung ange- sehen werden.

Broschüre_Erinnerungsorte gestalten_kirchliche Zwangsarbeiter NeuköllnDer NS-Zwangsarbeiter-Pavillon auf dem St. Thomas- Kirchhof in der Hermannstraße ist bis Mitte Oktober mittwochs und sonnabends zwischen 15 und 18 Uhr geöffnet. In dieser Zeit stehen Ehrenamtliche für weitere Auskünfte zur Verfügung. Dort ist auch die Broschüre „Geschichte erforschen – Menschen finden – Erinnerungsorte gestalten“ für 3 Euro zu erwerben.

Wer Authentisches zum Thema von Gerlind Lache- nicht lesen möchte, dem sei ihr Vortrag zum Tag des offenen Denkmals am 10.9. 2005  empfohlen.

=kiezkieker=

In Neukölln begraben: Anita Berber – mehr als zwei Begriffe

Der Vater einer schwäbischen Freundin hat mir einmal vor Jahren erzählt, dass er Josephine Baker live in Stuttgart auf einer Bühne gesehen hat. Für viele ist Josephine Baker auch heute noch ein Begriff und auf die Frage „Was fällt Ihnen zu ihr ein?“, würden viele wohl die Stichworte „Tanz“ und „Bananenrock“ nennen. Eine andere Frau, sieben Jahre vor Josephine Baker im Jahr 1899 geboren, kannte ich fast nur vom Namen her: Anita Berber. Und wenn mich jemand Näheres zu ihr gefragt hätte, dann wären mir wohl nur die Begriffe „Tanz“ und „Skandal“ eingefallen. Umso portal ehem. st. thomas-friedhof_neuköllnüberraschter war ich, als ich vor kurzem feststellte, dass Anita Berber auf dem alten Friedhof der St. Tho- mas-Gemeinde in der Neuköllner Hermannstraße  begraben wurde.

Anita Berber wurde nur 29 Jahre alt. Am 10. November 1928 starb sie im Krankenhaus Bethanien in Berlin-Kreuzberg. Doch welch exzessives Leben hat sie in diese 29 Jahre gepackt!

Als Tochter eines Künstlerehepaares geboren, das sich schon nach einigen Jahren trennte, lebte Anita Berber zusammen mit ihrer Mutter und weiblichen Anverwandten wohnhaus anita berber_zähringerstr. 13 berlin-wilmersdorfin einer Wohngemeinschaft in der Zähringer- straße 13 im Berliner Bezirk Wilmersdorf. In Berlin nahm sie Schauspiel- und Tanzunter- richt bei bekannten Lehrerinnen und wurde schon in jungen Jahren eine gefeierte Solotänzerin, die in Varietes wie dem Win- tergarten auftrat und bald Auslandstourneen machte.

Nach einer dreijährigen Ehe mit einem Offizier zog sie zu ihrer Freundin, mit der sie eine lesbische Beziehung hatte. Mit ihrem späteren zweiten Ehemann, Sebastian Droste, gestal- tete sie ein Tanzprogramm mit dem Titel „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, das in Wien uraufgeführt wurde. Dieses Tanzprogramm löste einen großen Skandal aus. Die Zeitungen berichteten ausführlich darüber und natürlich wollte jeder diese Aufführung sehen. Staatliche Stellen zwangen beide, 1923 Österreich zu verlassen. Droste ging für einige Jahre nach New York und starb 1927, nach der Rückkehr aus den USA, in Hamburg. Anita Berber heiratete 1924 zum dritten Mal: den amerikanischen Tänzer Henri Châtin Hofmann, mit dem sie zusammen auftrat. Und immer wieder kam es nach Tanzdarbietungen der beiden zu Skandalen. Zusammen mit ihrem Mann brach sie 1927 zu einer langen Tournee in den Nahen Osten auf, bei der sie 1928 in Damaskus gedenktafel anita berber_zähringerstr. 13 berlin-wilmersdorfauf der Bühne zusammenbrach.

Seit Jahren schon war Anita Berber kokainabhängig gewesen, nun er- krankte sie schwer an Tuberkulose. Nur mit Spenden von Berliner Künst- lerfreunden gelangte sie, zusammen mit ihrem Mann, nach Berlin zurück. Dort wurde sie in das Krankenhaus Bethanien eingeliefert, wo sie nicht mal 30-jährig verstarb.

Die direkt neben dem Kreuzberger Krankenhaus gelegene Kirchengemeinde St. Thomas hatte schon im Jahr 1865 ihren Friedhof vor die Tore Berlins, an die Neuköllner Hermannstraße, gelegt. Andere Gemeinden machten es ebenso; Grund hierfür war, dass innerstädtische Flächen für den Wohnungsbau benötigt wurden. Am 14. November 1928 wurde Anita Berber auf dem St. Thomas-Friedhof in einer Erd- ehem. st. thomas-friedhof_neuköllnbestattung beigesetzt. Ob es jemals einen Grabstein für sie gab, ist nach wie vor unklar. In einem alten Fried- hofsführer fand sich der Eintrag „Ani- ta Berber, eingeritzt auf einer Bank.“ Auch von dieser Bank gibt es keine Spuren mehr. Denn 2007 wurde der Friedhof, auf dem 1978 die letzte Be- erdigung stattfand, geschlossen und geräumt. 55 Jahre vor der Schließung wurde hier noch Anita Berbers Mutter bestattet.

Der Modeschöpfer Karl Lagerfeld hat die Tänzerin und Schauspielerin einmal als „gewagteste Frau ihrer Zeit“ bezeichnet, und Rosa von Praunheim drehte 1987 den Film „Anita – Tänze des Lasters“, in dem Lotti Huber mitspielte, sich als Bewohnerin eines Altersheims für Anita Berber hielt und aus deren Leben erzählte. Die künst- lerische Beratung für diesen Film kam von Lothar Fischer, der das Anita Berber Archiv betreut, und dem ich für seine Informationen, die er dort zusammengetragen hat, herzlich danken möchte. Sein Buch „Anita Berber – Göttin der Nacht“ kann wenigstens noch antiquarisch erworben werden.

=Reinhold Steinle=

Zufall oder Absicht?

Wer auch immer sein blaues Auto vor diesem Graffiti an der Mauer des St. Thomas-Kirchhofs  in der  Neuköllner  Thomasstraße parkte, bewies auf  jeden Fall  ein gutes

graffiti thomasstraße_neukölln

Gespür für farbliche Kompositionen. Denn das Blau des Autos passt doch wirklich perfekt  zu  dem  der  Augen.

Wider das Vergessen: Heute beginnt das Berliner Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“

80 Jahre ist es heute her, dass die Nazis für mehr als eine Dekade die Macht in Deutschland übernahmen. Knapp sechs Jahre später, am 9. November 2013_LOGO_300X_www1938, schlug der Antisemitismus des Regimes in staatlich organisierte Gewalt um. Diese Eckdaten, der  80. Jahrestag der Machtergreifung der National-sozialisten und der 75. Jahrestag der Novemberpogrome, sind Anlass für das Berliner Themenjahr 2013. Unter dem Motto „Zerstörte Vielfalt“  wird ab heute stadtweit mit  über 500 Veranstaltungen insbesondere an Menschen erinnert, die zur Vielfalt Berlins beigetragen hatten und nach 1933 bedroht, verfolgt, deportiert und ermordet wurden.

gedenkstätte, ausstellung, ns-zwangsarbeiterlager friedhof hermannstraße, neuköllnAuch in Neukölln bereitet man sich auf die Teilnahme am Berliner Themenjahr 2013 vor: „Verschleppt. Ge- treten. Beschimpft. Bedroht“ steht als Titel über der Führung, die am 14. April um 14 Uhr von der Evan- gelischen Kirche Berlin-Brandenburg angeboten wird und über NS-Zwangsarbeiter im kirchlichen Lager auf dem Neuköllner St. Thomas-Friedhof informiert.

„Ende einer Idylle? – Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung in Britz vor und nach 1933“ heißt eine Ausstellung, die hufeisensiedlung britz, unesco welterbe, neukölln, hüsungdas Museum Neukölln ab 16. Mai zeigt. Zur Einstimmung hat das Museum in seinem Blog den Themenschwerpunkt „50 Türen in die NS-Zeit“ gesetzt und schildert in ihm Schicksale von Britzern street view neukölln, lilienthalstraße, neukölln, friedhof lilienthalstraßeim Nationalsozialismus.

Schon seit einem Vierteljahr und noch bis zum 30. April ist in der Feierhalle des ehemaligen Militärfriedhofs in Neukölln immer dienstags bis sonntags (10 – 17 Uhr) die Wanderausstellung „Die polnische Minderheit im KZ“ zu sehen, bei der es um Mitglieder polnischer Verbände im Deutschen Reich in den Konzentrations- lagern Sachsenhausen und Ravensbrück geht.

Des Themas „Die politischen Häftlinge des Konzen- trationslagers Columbia-Haus 1933 – 1936“ nimmt denkmal columbia-haus_columbiadamm neuköllnsich die GDW – Gedenk- stätte Deutscher Wider- stand ab 19. Juli an. Heute erinnert nur ein Denkmal am Columbiadamm, wenige Schritte von der Neuköll- ner Bezirksgrenze entfernt, an das KZ, dem eine besondere Bedeutung unter den Berliner Konzentra- tionslagern beigemessen wird. „Es ist das einzige Lager“, so GDW-Leiter Prof. Dr. Johannes Tuchel, „das von Beginn an unter Aufsicht der SS steht und zum Ausbildungszentrum für viele spätere KZ-Komman- danten wird.“ Im November 1936 wurde das Lager geschlossen, 1938 das Gebäude abgerissen. In der Ausstellung stehen die Häftlinge im Vordergrund. Ihr Alltag wird durch ausgewählte Biographien veranschaulicht und so ein individueller Zugang zu den Schicksalen der Menschen sowie den Haftbedingungen, denen sie ausgesetzt waren, infotafeln zur geschichte des tempelhofer felds, zwangsarbeiterlager, berliner forum für geschichte und gegenwartermöglicht.

Auf dem Tempelhofer Feld wird anlässlich des The- menjahrs „Zerstörte Vielfalt“ ein Open-Air-Geschichts- pfad zur NS-Historie des Flughafengeländes angelegt: Dazu werden zunächst  im Frühjahr zu den drei bereits bestehenden Infotafeln zehn weitere installiert. Insge- samt soll der vom Berliner Forum für Geschichte und Gegenwart (BFGG) e. V. erarbeitete Infopfad einmal 27 Tafeln umfassen und so den Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses umsetzen, am Columbiadamm einen Gedenk- und Informationsort einzurichten.

stolpersteine für berlin 8.10.2011, gunter demnigIn das Internetportal des Themenjahres, das über alle „Zerstörte Viel- falt“-Veranstaltungen informiert, wurde auch der Datenpool des Projektes „Stolpersteine“ einge- bunden, der nun mittels einer interaktiven Stadtkarte die über 1.500 Stolpersteine in Berlin darstellt. Seit Oktober letzten Jahres liegen 123 davon vor Häu- sern in Neukölln.

=ensa=

65 Jahre danach in Neukölln: ein Informationspavillon als Gedenkstätte für kirchliche Zwangsarbeiter

Über 50 Jahre lang herrschte seitens der Evangelischen Kirche – zumindest nach außen – Schweigen über das, was von 1943 bis 1945 auf dem Friedhof der Jerusalemsgemeinde und Neue Kirchengemeinde an der Hermannstraße  in Neu- kölln geschah:

gedenkstätte, ausstellung, ns-zwangsarbeiterlager friedhof  hermannstraße, neuköllnÜber 100 Zwangsarbeiter aus der Sow- jetunion waren in den letzten beiden Kriegsjahren im „Berliner Friedhofslager“ kaserniert, das als einziges deutschlandweit von der Kirche geplant, finanziert und betrieben wurde.

Erst im Jahr 2000, als die Entschädigung von Zwangsarbeitern öffentlich diskutiert wurde, fing auch die Evangelische Kirche an, ihre Rolle im NS-Regime selbstkritisch zu hinterfragen. Von einer Verpflichtung, dem Schicksal der Zwangsarbeiter nachzugehen, sprach Wolfgang Huber, damals Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, in seiner Bußtagspredigt: „Wir wollen damit nicht aufhören, bis die Überlebenden Wie- dergutmachung erfahren. Wir sagen es zu uns selbst, aber wir sagen es auch in die Öffentlichkeit: Die Zeit drängt. An jedem Tag sterben ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Die Schuld daran, dass sie zur Arbeit gezwungen wurden, trugen unsere Väter und Mütter. Die Verantwortung dafür, das uns Mögliche zur Wiedergutmachung zu tun, liegt bei uns. Vor dieser Verantwortung versagen wir an jedem Tag, den die Wiedergutmachung weiter hinausgeschoben wird. Es gibt nicht nur eine erste, es gibt auch eine zweite Schuld.“

Weitere zehn Jahre später, am 65. Jahrestag der Befreiung des Friedhofslagers durch die Rote Armee, wurde auf dem St. Thomas-Kirchhof ein neuer Ausstellungs- und Informationspavillon als Gedenkstätte für kirchliche Zwangsarbeiter eröffnet. Und es lohnt sich, sich für den mal Zeit zu nehmen. Auf 14 Schautafeln sind die bedrückenden Erinnerungen zehn ehemaliger Zwangsarbeiter an den Lebens- abschnitt als Zwangsarbeiter festgehalten, die eindringlich vom Krieg und der Arbeit auf den Friedhöfen erzählen. Außerdem gibt Filme, Tondokumente und Kopien kirchlicher Dokumente zu sehen.

Der Pavillon auf dem St. Thomas-Kirchhof in der Hermannstraße 79 – 85 ist noch bis Oktober mittwochs und samstags von 14 bis 18 Uhr sowie nach Vereinbarung geöffnet. Weitere Infos hier!

Zum Vertiefen des Themas ebenfalls sehr lesenswert: der Vortrag von Dr. Christian Homrichhausen anlässlich der Tagung der Berliner Initiative zur Erforschung der NS-Zwangsarbeit.

_ensa_