Made in Neukölln: „Woche der Sprache und des Lesens“ erstmals deutschlandweit

Noch 121 Tage, 4 Stunden, 55 Minuten und einige Sekunden bis zum Beginn der „Woche der Sprache und des Lesens 2019“ zeigte die Countdown-Uhr auf der Webseite des bundesweiten Lese-Festivals an, als gestern Abend einige Aktive zum Vorberei-tungstreffen zusammengekommen waren. Zufrieden konnte Projektleiter Ralf Tober im Büro des Aufbruch Neukölln e. V. in der Rixdorfer Uthmannstraße die neue Werbepostkarte vorstellen, die frisch aus der Druckerei gekommen war.

Das Vorbild der ersten deutschlandweiten Sprach-woche ist das Veranstaltungsformat „Woche der Sprache und des Lesens“, das der Verein 2006, 2008 sowie 2010 im Bezirk entwickelte und 2012 in ganz Berlin mit einem umfangreichen Weiterlesen

Auf keinem guten Weg

„So leer war es noch nie bei einem Parkgespräch“, konstatiert Heidi Göbel. Nicht mal die Hälfte der Stühle fürs Publikum ist vor der Pause besetzt, nach der Pause haben sich die Reihen noch wei- ter gelichtet. Göbel, die die Talkreihe im Körnerpark mit Martin Steffens mode- riert, vermutet, dass die Parallelität verschiedener anderer Veranstaltungen im Umkreis weniger Minuten Fußweg Ursache für den bescheidenen Zuspruch ist. Bei der Planung fürs nächste Jahr müssten sie darauf achten Termine zu finden, an denen nichts anderes los ist, sagt Heidi Göbel. Ihr Kollege Tasin Özcan, für die Technik und die Bewirtung des Publikums zuständig, äußerst Bedenken, ob es einen solchen Termin überhaupt geben wird. Außerdem: Vorherige Parkgespräche waren gut besucht, obwohl auch sie nicht bar jeglicher Konkurrenz über die Bühne gingen.

Gut möglich, dass das relative Desinteresse am Thema selbst oder daran lag, wie es auf Plakaten und Flyern angekündigt wurde: „Literatur in Neukölln“. War das doch ein zu nüchterner Titel für eine Materie, die ohnehin entweder interessiert oder eben nicht? Fehlte manchem potenziellen Besucher angesichts der Runde der Disku- parkgespräche neukölln, martin steffens, kazim erdogan, gunnar kunz, hanna baynetanten womöglich die Aussicht auf verbale Kontroversen?

Zweifellos, auf dem Podium saßen – flankiert von Martin Stef- fens (l.) und Heidi Göbel – drei, die sich im Bereich der Literatur, in Neukölln oder bei beidem auskennen: Hanna Bayne (r.) leitet das Sprach- und Lern- zentrum der Neuköllner Stadt- bibliothek, Gunnar Kunz (M.) ist Schriftsteller und wohnte von 1987 bis 1997 in Neukölln und   Kazim Erdogan (2. v. l.) rief das Erfolgsprojekt „Woche der Sprache und des Lesens“ ins Leben, arbeitet im Norden des Bezirks und wohnt im Süden Neuköllns. Die Literaturaffinität kann also durchaus als ihr gemeinsamer Nenner bezeichnet werden, die Werbung für das eigene Tun stellte sich als weiterer heraus.

Bei Hanna Bayne offenbarte es sich in einer so starken Ausprägung, dass sie bereits bei der Einstiegsfrage „Warum ist das Lesen wichtig?“ weitestgehend an der Frage vorbei antwortete. Kunz gab zu, schon als Kind Bücher verschlungen zu haben, und Erdogan erklärte Bücher zum Reichtum der Menschheit und wichtigsten Kommunikationsmittel. Dafür, dass die Runde sich wieder weit vom Thema Literatur entfernte, sorgte das von Karteikarten gegeißelte Moderatoren-Duo mit der Anschlussfrage. „Wie sieht Ihr Schreibtisch aus?“, wollte es erfahren – und mehr noch, ob auf dem auch ein PC stehe.

Danach durfte die Bibliothekarin (dienstlicher Schreibtisch „sehr organisiert“ und mit PC, häuslicher Schreibtisch „anders“) von ihrem Arbeitsalltag berichten, der vor allem aus der Vermittlung von Medien an Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 12 bestehe. Hauptsächlich gehe es dabei um Literatur für die Schule, privat werde von Jugendlichen „eindeutig zunehmend weniger“ gelesen, so Bayne. Die Bibliothek versuche den Trend jedoch auch durch ein belletristisches Angebot mit Büchern für Leseungewohnte zu bremsen, mit Büchern über brisante Themen in Großschrift. parkgespräche - talk im körnerpark, neukölln, kazim erdogan, gunnar kunz, hanna bayneKinder würden bereits ab dem Kita-Alter durch verschiedene Projekte und Aktionen an das Lesen herangeführt.

Um das Schaffen von Mög- lichkeiten zur Begegnung mit Literarischem geht es auch Ka- zim Erdogan (Büro-Schreibtisch „schlimm, obwohl ich eigentlich ein sehr ordentlicher Mensch bin“) mit seiner „Woche der Sprache und des Lesens“. 2006 fand sie erstmals in Neukölln statt und soll im nächsten Jahr auf ganz Berlin ausgeweitet werden. Das Besondere des Events sei, dass es von der Basis organisiert werde und ein Programm biete, das Menschen aller Altersgruppen und Herkunftsländer anspreche: Autoren mit Vorbildpotenzial lesen in Schulen oder auf öffentlichen Plätzen, Vorleser in Bussen, Wartezimmern und an anderen ungewöhnlichen Orten aus Werken verschiedenster literarischer Genres. Um eine Wertschätzung der Sprachenvielfalt in der Stadt gehe es dabei selbstverständlich auch. „Deutsch“, sagt Erdogan, „ist aber definitiv die Erstsprache.“ Wie überaus wichtig eine gemeinsame Sprache ist, das erlebe er ständig: „Und ich selber habe es sehr unmittelbar erfahren, als ich 1974 – ohne ein Wort Deutsch zu können – aus der Türkei nach Deutschland einreiste.“

Einer Frage an Gunnar Kunz (Schreibtisch im Arbeitszimmer „extrem aufgeräumt“) soll die Maschen um das Thema „Literatur in Neukölln“ wieder etwas enger ziehen. Die, wie denn die Vernetzung der Neuköllner Literaturszene in den 1980er- und 1990er-Jahren gewesen sei, taugt dafür nur bedingt. Er habe nicht viel mit der Szene zu tun gehabt, sagt Kunz. Auf die Frage nach seinem Alltag als Literat hat er mehr zu erzählen: Der sei sehr strukturiert und teile sich in die Kreativarbeit in der ersten und Recherchen sowie Organisatorisches in der zweiten Tageshälfte. „Für mich ist die Schriftstellerei der schönste Beruf der Welt“, sagt Gunnar Kunz – auch vor dem Hintergrund zu denen zu gehören, die davon leben kön- nen. Ob es von dem Krimi-Autor auch irgendwann ein lustiges Neukölln-Buch à la Uli Hanne- mann geben wird, will Martin Steffens noch wissen. „Nö“, er- klärt der 50-Jährige, „das inte- ressiert mich nicht.“

„Was wünschen Sie dem Nor- den Neuköllns literarisch?“ lau- tet die Frage, mit der die dritte Ausgabe der Parkgespräche in Richtung Pause trudelt. „Wir sind auf einem guten Weg“, findet Kunz und lobt die „total interessanten“ Fragen, die Jugendliche ihm oft bei Lesungen stellen. Hanna Baynes Wünsche zielen in erster Linie auf den Umgang der Neuköllner mit der Bibliothek: „Mehr Selbst- verständnis, sie zu benutzen, wäre schön.“ Kazim Erdogan wünscht sich Akzeptanz und Anerkennung, aber auch Beschämung, zum Beispiel angesichts der hohen Analphabeten-Quote. Das bringt ihm Applaus ein.

Nach der Pause verrät Erdogan noch, dass er momentan das Wowereit-Buch liest und demnächst selber unter die Autoren gehen wird. Er habe das Angebot eines Verlags angenommen, der ein Buch zum Thema Integration von ihm veröffentlichen möchte. Insofern schließt sich der Kreis um das Thema „Literatur in Neukölln“ dann doch wieder.  Hätten Schriftsteller, die aktuell in Neukölln leben, oder Inhaber kleiner Neuköllner Buchhandlungen auf dem Podium gesessen, hätte das Publikum dieses Erlebnis höchstwahrscheinlich öfter haben können. Moderatoren, die sich statt für das Oder für Fisch oder Fleisch entschieden hätten, wären auch von Vorteil gewesen.

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Ein Mann – ein Ort: Der Neuköllner Kazim Erdogan und sein Heimatdorf Gökçeharman

Kazim Erdogan war 20, als er sein im tiefsten Zentralanatolien gelegenes Heimat- dorf  Gökçeharman verließ und nach dreitägiger Busfahrt via Istanbul und München in Berlin am Bahnhof Zoo an- kam. Es war im Februar 1974. Gökçeharman hatte damals weder eine Schule noch Strom; die rund 360 Einwohner bestritten ihren Lebensunterhalt vorwie- gend durch Landwirtschaft und Viehzucht. Erdogans Vater gehörte zu den we- nigen, die eine Stelle als Bahnarbeiter bei der etwa 5 Kilometer entfernten Eisenbahnlinie gefunden hatten. Ein Glücksfall, der dem Jungen den Besuch eines Internats in Erzurum ermöglichte: Am Ende der Schul- ausbildung hatte Kazim Erdogan als erster Gökçeharmaner überhaupt das Abitur in der Tasche. Die Aufnahmeprüfung an der Universität von Ankara schaffte er problem- los, das Studium dort an- zutreten scheiterte an den finanziellen Möglichkeiten.

In Berlin Psychologie und Soziologie studieren und dann wieder zurück in die Heimat, um den Lands- leuten zu helfen, das war der Plan, mit dem der Sohn an-alphabetischer Eltern nach Deutschland gekommen war. 1979, als Kazim Erdogan sein Studium absolviert hatte, verhinderte die Regierungsbildung durch Nationalisten die Rückkehr in die Türkei. Später lernte er seine Frau kennen, bekam mit ihr zwei Töchter und schlug nicht nur familiäre, sondern auch berufliche Wurzeln in Berlin. Eine Erfolgsgeschichte, die seit 2003 insbesondere in Neukölln geschrieben wird.

Eine gänzlich andere Entwicklung nahm jedoch Erdogans Heimatort Gökçeharman,  das derzeit mit einer sehenswerten Ausstellung im Neuköllner Leuchtturm eine sehr persönliche Würdigung er- fährt. „Wir waren ja erst wirklich skeptisch, als Kazim uns fragte, ob er Fotos, die er vor 30 Jahren in seinem Dorf gemacht hat, bei uns ausstellen kann“, erinnert sich Karen-Kristina Bloch-Thieß, die – zu- sammen mit ihrem Mann – das Creativ-Centrum im Körnerkiez vor knapp sechs Jahren ein- richtete. Als sie dann die Bilder sahen, war nicht nur die Skepsis dahin, sondern auch die Gewissheit da, dass das Fotografieren ebenfalls zu Kazim Erdogans Talenten gehört.

Es sind fast 70 eindrucksvolle Fotos, die Gökçeharman und die Landschaft Zentralanatoliens porträtieren und von den Menschen erzählen, die dort in einfachsten Verhältnissen lebten. Etwa 80 Häuser standen damals in dem Dorf, das erst Mitte der 1970er Jahre zu einer Grundschule kam und zehn weitere Jahre auf die Anbindung ans Elektritizitätsnetz warten musste. Viele der Einwohner hatten Gökçeharman  seinerzeit  bereits ob  der unzumutbaren  Lebensbedingungen verlas-

sen und sich eine neue Existenz in türkischen Städten oder anderen Ländern und Kontinenten aufgebaut. Von der gesamten Ansiedlung sind heute nur noch zwei Häuser übrig.

Kazim Erdogan wird demnächst erneut in sein weitgehend verwaistes Heimatdorf aufbrechen. Mit einem Plan im Gepäck, den andere höchstwahrscheinlich nicht mal zu äußern wagen würden – aus Angst, für verrückt erklärt zu werden: Der 58-jährige Neuköllner will Gökçeharman wieder auf- bauen und zu neuem Le- ben erwecken, am ersten Haus werde schon ge- werkelt. Wer den umtriebi- gen Initiator der Sprach- woche Neukölln, von Ge- sprächsgruppen für türki- sche Männer und diversen anderen Projekten auch nur ein wenig kennt, ahnt, dass es mehr als eine fixe Idee ist, sondern dass er viel dafür tun wird, sie zu realisieren.

Die Fotoausstellung „Kazim Erdogan und sein Dorf Gökçeharman“ ist noch bis zum 28. Oktober im Creativ-Centrum Neuköllner Leuchtturm in der Emser Straße 117 zu sehen. Geöffnet ist von mittwochs bis freitags zwischen 14 und 19 Uhr.

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Von Neukölln nach Mainhattan

Vor fünf Jahren war die erste, 2008 die zweite und im letzten Jahr die dritte Woche der Sprache und des Lesens in Neukölln. Derzeit sitzt das Organisatoren-Team um woche der sprache und des lesens in neuköllnInitiator Kazim Erdogan daran, die nächste Sprachwoche vorzubereiten, die 2012 in der ersten September-Woche stattfinden soll – und das nicht nur in Neukölln, sondern  in ganz Berlin. Dass Christina Rau die Schirmherrschaft übernehmen wird, steht auch bereits fest: Für die Witwe des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau ist es – nach dem für den Campus Rütli – der zweite Eh- renvorsitz für ein Neuköllner Projekt.

So weit ist man beim Verein Sprich! in der Banken- metropole Frankfurt noch nicht. Doch Jannis Plastargias und Georgette Carbonilla sind als treibende Kräfte der Idee, dem Neuköllner Original nacheifern zu wollen, wild entschlossen  eine Woche der Sprache und des Lesens in  Frankfurt auf die Beine zu stellen.

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Erfolg verpflichtet

Das in Neukölln aus der Taufe gehobene Projekt „Stadtteilmütter“ macht es vor: Ob des großen Erfolgs hat es sich verstetigt, was dazu führt, dass regelmäßig neue Ausbildungslehrgänge neue Stadtteilmütter produzieren. Insgesamt 223 Frauen wurden bisher für diese Tätigkeit qualifiziert, jüngst kamen 32 Azubis dazu. Ähnlich ist es mit der „Woche der Sprache und des Lesens in Neukölln“: Die soll wegen des beachtlichen Zuspruchs im nächsten Jahr zum vierten Mal stattfinden und bei entsprechendem Interesse sogar auf andere Bezirke ausgedehnt werden.

Im Schatten dieser renommierten Neuköllner Projekte hat nun ein weiteres die Erfolgslaufbahn eingeschlagen: Zur Wiederholung der enormen Freude, die die Hermannstraße Autofah- rern bereits vor den letzten Weihnachtsferien bescher- te, ist die Hauptverkehrs- route auch pünktlich vor Beginn der Osterferien pro Fahrtrichtung wieder nur einspurig befahrbar. So konnten in urbanem Am- biente erneut perfekte Trainingsbedingungen zur Vorbereitung auf die Stau- steherei im Osterreiseverkehr geschaffen werden. Parallel wurden selbstverständlich auch diesmal in den Anrainerkiezen durch Straßensperren wieder Möglichkeiten geschaffen, die Aktualität der Navigationsgeräte zu überprüfen und/oder den Orientierungssinn zu schulen.

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