Rostige Nägel, eine Rasiercreme-Tube, Flaschen, Scherben von Tellern mit dem Aufdruck „Schönheit der Arbeit“, ein Schaltplan, Identitätsmarken
amerikanischer Soldaten, Emaille-Töpfe, Grabstellen und Sarg- griffe, Tuben mit Salben gegen Geschlechts- krankheiten, Gabeln, Reste von Stahlhelmen, Kämme, ein Souvenir für Ursula, Flugzeugteile: Die vor einem Vierteljahr begonnene Spuren- suche auf dem Tempelhofer Feld (wir berich- teten) hat ein so skurriles wie makaberes Sam- melsurium zutage gefördert. Gestern stellten die an den Grabungen beteiligten Institutionen einige der knapp 10.000 Fundstücke vor, die innerhalb weniger Wochen auf der Fläche des Lilienthal-Zwangsarbeiterlagers der Lufthansa geborgen wer-
den konnten.
„Es ist besonders die Menge, die uns überrascht hat“, sagt Landes- konservator Prof. Dr. Jörg Haspel (2. v. l.), „und die Tatsache, dass vieles so dicht unter der Grasnarbe lag.“ Schon in 30 Zentimetern Tiefe wurde aus dem Suchen ein Finden. Den- noch seien es extrem schwere Gra- bungen gewesen, betont Dr. Karin Wagner (r.), die im Landesdenkmalamt Berlin den Fachbereich Archäologie leitet.
Schließlich hätten die Wissenschaftler in belasteten, womöglich noch mit Kampfmitteln kontaminierten Bö- den nach dem „Erbe unter unseren Füßen“ gesucht. Was das praktisch bedeutete, veranschaulicht Gra- bungsleiter Jan Trenner mit einem kniehohen Metall- gefäß, das beim Auffinden für Adrenalinschübe sorgte. Dass es sich bei dem Exponat um einen Behälter handelt, in dem Nahrungsmittel aufbewahrt wurden, sei erst durch Untersuchungen festgestellt worden.
Bei anderen Dingen war es trotz der Komplexität der Nutzung des Gebiets leichter, ihnen ihre Geschichten zu entlocken. Die Toilettenartikel sind Zeugnisse der Besatzungszeit. Die Sarggriffe gehen auf die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurück, als der Friedhof am Columbia- damm, der heute durch eine Backsteinmauer vom Tempelhofer Feld getrennt ist, weit bis in das ehemalige Flughafenareal hineinragte. „Die Flugzeugteile stammen von Kampfmaschinen, die während des 2. Weltkriegs hier in den Werkshallen der Lufthansa von Zwangsarbeitern montiert und repariert wurden“, erklärt Prof. Dr. Reinhard Bernbeck (M.) vom Institut für Vorderasiatische Archäologie der FU Berlin. „Die vielen gefundenen Nägel, die alle bei 7 Zentimetern umgebogen sind, lassen




auf die Dicke der Holzwände der 12 Meter langen Baracken des Lagers schließen.“ Etwa 4.000 Männer und Frauen aus Frankreich, Belgien und Osteuropa wur- den hier von der Lufthansa als Zwangs-arbeiter für die Rüstungsindustrie einge-setzt, schätzt man. Konkretes, so Bern- beck, gehe aus einem Forschungsbe- richt hervor, der allerdings vom Luftfahrt-Konzern nicht zugänglich gemacht wer- de. Der Dokumentarfilm „Fliegen heißt Siegen: Die verdrängte Geschichte der Deutschen Lufthansa“ sei diesbezüglich aber auch sehr aufschlussreich, bemerkt Professor Haspel. Durch die Grabungen auf dem Tempelhofer Feld kommt
weiteres Licht in das abgedunkelte Kapitel der Vergangenheit der Kranich-Airline.
Zudem leisten die Funde einen wertvollen Beitrag zur Stadtgeschichte. Inwieweit die haptischen Relikte der Nazi-Zeit Einfluss auf die Konzepte für die künftige Nutzung des Tempelhofer Felds haben werden, ist noch unklar. Fakt ist, dass die Wissen- schaftler im kommenden Jahr gerne ihre archäologischen Grabungen im Bereich des KZ Columbiahaus und des Richthofen-Lagers fortsetzen würden. Derzeit werde
mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung an der Verlängerung der Kooperationsvereinbarung gearbeitet, sagt Landeskonservator Haspel. Auch sei eine Experten-gruppe unter Andreas Nachama, dem Direktor der Stiftung Topographie des Terrors, eingerichtet worden, die ein Gedenkstättenkonzept für das Tempelhofer Feld entwi- ckeln werde.
„Wir begreifen die Ausgrabung und die Würdigung der Funde aber auch als Vorbereitung auf das Berliner The- menjahr 2013 und
den Tag des offenen Denkmals im nächsten Tag“, sagt Jörg Haspel. Ersteres werde unter dem Motto „Zerstörte Vielfalt – Berlin in der Zeit des Nationalsozia- lismus“ stehen, letzter beschäftigt sich mit dem Aspekt „Jenseits des Guten und Schönen: Unbequeme Denkmale?“. Das seien doch geeignete Anlässe, sich in- tensiv mit der eminent wichtigen Frage zu beschäftigen, wie man nationalsozialis- tische Großanlagen erhalten, erschließen und für nachfolgende Generationen entwickeln kann, findet er.
=ensa=
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