Mit dem Sehen ist es schlagartig vorbei. Die Augen sind durch ein türkises Tuch verdeckt, ein fremder Arm legt sich um die Schulter und führt, begleitet von den An- weisungen einer unbekannten Stimme, durch die Dunkelheit. Zögerliche Schritte bis das Ziel erreicht ist, sich der führende Arm löst, die Stimme zum Hinsetzen auffordert und sich die eigenen Sinnesorgane um Orientierung bemü- hen dürfen.
Das klingt nach dem Experiment, einen Ein- druck vom Leben ohne Augenlicht zu bekom- men? Ist es aber nicht. Nein, so beginnt ein wahrlich ungewöhnlicher Theaterabend mit Salome Dastmalchi. Und das ist er nicht nur fürs Publikum, das in den ersten 20 Minuten Zuhörer statt -schauer ist, sondern auch für die Schauspielerin selber. Vor einer vierten Wand auf der Bühne zu agieren, das kennt und mag sie, es vor Men- schen mit Augenbinden zu tun, ist eine neue Erfahrung: „Ich spiele trotzdem nicht anders, als ob ich gesehen werde.“ Zumal es ja auch nie so sei, dass wirklich keiner zuguckt, wenn sie mit Stimme, Bewegun- gen und Geräuschen „den Raum definiert“, um dem Publikum ein Gefühl für die Umge- bung zu vermitteln. Denn das Tragen der Augenbinde ist selbstverständlich freiwillig.
Auch dieser sonderbare Auftakt zu „Ein eigenes Zimmer“ war eine Idee von Regisseur Oliver Kontny, der aus Passagen seines Hörspiel „Iranian Voices“ und neuen Fragmenten diese vielschichtige, faszinierende wie auch irritierende Solo- Performance für Salome Dastmalchi komponierte. „Es geht immer gleichzeitig um mehrere Ebenen: Die Erfindung des Paradieses im Zuge der Eroberung Babylons, die Gedanken einer Rechtsanwältin in einer Einzelzelle des Teheraner Gefängnisses, surrealis- tische Briefe vom Ende der Welt und die skurrile Liebesgeschichte von der armenischen Prinzessin Schirin, dem persischen König Chosrau und dem Architektem Farhad“, beschreibt er das Stück, das vor einem knappen Monat uraufgeführt wurde.
„Die Zeit davor war die Hölle“, gesteht die in Neukölln lebende Schauspielerin, „weil ich richtig viel und richtig schwierigen Text zu lernen hatte.“ Dazu kam, dass diese Form von Theater eigentlich nicht die ist, die sie bevorzugt und sonst macht: „Aber Oliver hat das Stück schließlich für mich geschrieben und ist ein toller Re- gisseur.“ Einer, der Humor hat, flexibel auf Stimmungen reagiert und eine Wohlfühlatmosphäre schafft. Und der Schauspielerinstinkten vertraut und sich durch sie inspirieren lässt. „Das mit dem Kleid“, erzählt Salome Dastmalchi, „war zum Beispiel meine Idee.“ Sie sei eben eine, die „Elfen, Barbies und solchen Mädchen-Glit- zerkram“ liebe. Insofern sei das Kleid mit dem raschelnden Tüllrock so etwas wie ein Stoff gewordener Prinzessinnen-Kind- heitstraum. In „Ein eigenes Zimmer“ ist es
zugleich ein Ge- fängnis. Eine andere zweite Funktion neben der der Kindheitstraum-Erfüllung hat die Perücke: Sie erleichtert sowohl dem Publikum als auch der Schauspielerin den ständigen Wechsel der dramaturgischen Ebenen. „Davor, den so darzustellen, dass die Zuschauer folgen können, hatte ich mindestens genauso viel Respekt wie vor den Texten“, sagt die 33-Jährige, die ein vierjähriges Schau-spielstudium in Bern absolvierte.
Ihr Berufsverständnis unterscheidet sich erfrischend von dem etlicher ande- rer Schauspieler. Sie sei „eine Zweiflerin“ mit der ständigen Angst vor Texthängern, die erst mit dem Beginn des Stücks verschwindet, be- sitze „keine ausgeprägte Eitelkeit“ und sehe sich als „Sprachrohr des Autors“. Ihre Arbeit empfindet Salome Dastmalchi dann als erfolgreich, wenn sie das transportieren kann, was der Regisseur will. „Wichtiger als Aner- kennung und Kritik des Regisseurs sind mir aber letztlich die Reaktionen des Publikums“, relativiert sie.
Bei den bisherigen „Ein eigenes Zimmer“-Auf-führungen wurde die Schauspielerin für ihre fesselnde Solo-Performance mit Jubel und fre- netischem Applaus belohnt. Dass man anfangs nur hört statt zu sehen und zu hören, macht das Stück wahrlich zu einem besonderen Erlebnis. Bedenken, womöglich den Moment zum Abneh- men der Augenbinde zu verpassen, muss dabei niemand haben. „Zuerst“, verrät Salome Dast- malchi noch, „haben wir durch verschiedene Improvisationen versucht, das Signal zu geben. Aber das hat nie funktioniert.“ Also wurde die Aufforderung kurzerhand in ihren Text aufgenommen. „Genau an dem Punkt, wo es reicht und man endlich etwas sehen will“, findet sie – und hat recht.
Am 17. und 18. Mai gibt es jeweils um 20 Uhr weitere „Ein eigenes Zimmer“-Vorstellungen in der Frühperle. Wegen der begrenzten Platzzahl ist eine Kartenreservierung ratsam: ein-eigenes-zimmer[at]web.de
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