Nur noch wenige Plätze waren im großen Saal des Heimathafen Neukölln frei, als Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky die Gedenkveranstaltung für Kirsten Heisig eröffnete. Schon kurz nach deren Tod vor gut zwei Monaten sei klar gewesen: „Es muss einen Tag geben, an dem wir uns den Inhalten widmen, die sie hinterlässt.“ Gestern war er gekommen.
Im Publikum viele Kollegen, Mitstreiter, Freunde und Angehörige der Jugend- richterin, außerdem Sympathisanten, die durch Sticker am Revers an sie erinnerten, und Menschen, die mehr darüber erfahren wollten, wer diese Frau war, was sie ausmachte und antrieb – bis zur Verzweiflung. Auf dem Podium außer Heinz Buschkowsky die Schriftstellerin Monika Maron, der Schauspieler Hüseyin Ekici, der leitende Oberstaatsanwalt Dr. Andreas Behm, der Jugendrichter Dr. Günter Räcke und Tagesspiegel-Chefkorrespondentin Tissy Bruns, die die Gesprächsrunde moderierte.
Als „nett, sympathisch und dynamisch“ habe er Kirsten Heisig kennen gelernt, aber auch als eine, die „nicht sehr bequem“ war, beschrieb Buschkowksy sie. Hüseyin Ekici widersprach dem nicht, obwohl seine Begegnungen mit der Juristin unter gänzlich anderen Vorzeichen gestanden hatten: Der heute fast 20-Jährige, der es „von der Straße auf die Bühne“ schaffte und nicht türkischer sondern zazaischer Herkunft ist, hatte als jugendlicher Delinquent mit Heisig zu tun. „Aber auch für mich als Täter war ihr Tod ein Schock.“
Einen Schock heilsamer Natur hatte ihm lange vorher bereits seine Mutter versetzt. Wenn er auf Hartz IV machen würde, kündigte sie an, würde sie ihn aus der Wohnung schmeißen. Der in Neukölln Aufgewachsene bekam die Kurve, wurde „vom Opfer zum Schauspieler“ und wird nun von Buschkowsky „Sprachrohr der Neuköllner Jugend“
genannt.
Von solchen Müttern müsse es mehr geben, waren sich alle einig. Doch die traurige Wahrheit sei eher, dass Kinder in Verhältnissen aufwachsen, die sie direkt in ein gescheitertes Leben katapultieren. Erzieherische Defizite der Eltern im Zusammenspiel mit einem zu laxen, trägen Umgang mit Schulschwänzern oder -verweigerern und dem, was Recht ist, schaufeln immer neue Jugendliche auf die schiefe Bahn. „Die Hälfte aller Neuköllner Grundschüler ist davon betroffen“, prognostizierte Heinz Buschkowsky, der als Lokalmatador die anderen Diskutanten in puncto Redezeit und Szenenapplaus weit hinter sich ließ.
Bei der Frage, was Kirsten Heisig durch ihre Arbeit erreicht habe, gingen die Meinungen aufgrund unterschiedlicher Perspektiven jedoch stark auseinander. „Sie hat beim Umgang mit Jugendkriminalität besonders viel bewegt“, erkannte Günter Räcke an. Der Jugendrichter hatte seinerzeit zusammen mit Heisig das Neuköllner Modell, das inzwischen für ganz Berlin gilt, angeschoben. Wohlwissend, dass dabei vieles gesagt werden müsse, was andere nicht hören wollen: „Wir hatten ja bis dahin kein Denk-, aber ein Sprech-Tabu.“ Kirsten Heisigs schonungslose Offenheit war es auch, die Monika Maron und einer Gruppe von Kreativen die Augen für das Thema öffnete. Die Schriftstellerin lud die Richterin ein, den Künstlern von ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. „Die waren“, so Maron, „von den Tatsachen zuerst regelrecht scho-ckiert.“ Für die Zukunft fordert sie vor allem eine Veränderung des Diskussions-klimas, damit eine Bereitschaft entstehen kann, das Problem als gesamtgesell-schaftliches zu sehen. „Durch Heisig“, bilanzierte Oberstaatsanwalt Andreas Behm, „ist die Wichtigkeit der Vernetzung unterschiedlicher Ebenen erkannt worden.“ Hüseyin Ekici nickte zustimmend, Heinz Buschkowsky bestätigte, dass die „Versäulung der Behörden“ wirklich ein riesiges Problem sei.
„Warum aber muss sich ganz Deutschland dafür interessieren, was in Neukölln los ist?“, schickte Tissy Bruns als Frage in die Schlussrunde. Weil Jugendkriminalität ein anschwellendes Problem sei, entgegnete Monika Maron. „Machen wir uns doch nichts vor!“, mahnte Andreas Behm. „Das Problem gibt’s überall, nur ist die Kriminalität in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein eben eine andere als in Berlin.“ Ausgerechnet Neuköllns Bezirksbürgermeister war es, der dann doch noch einen ins Gespräch brachte, dessen Name während der gesamten Diskussion nicht gefallen war. Auch Buschkowsky verschwieg ihn, stellte lediglich fest, dass momentan große Aufregung über ein anderes Buch herrsche. Er verurteilte die „Politik by Helicopter„, das Abheben mit großem Getöse, bei dem eine Menge Staub aufgewirbelt werde, und danach sei wieder alles wie vorher: „Wenn nicht schnell erkannt wird, dass es in erster Linie die Schwachen sind, die einen starken Staat brauchen, bricht das ganze gesellschaftliche System Deutschlands in sich zusammen.“
Für einen Schlusspunkt mit mehr Optimismus sorgte Hüseyin Ekici. Befragt, was Neukölln und den Jugendlichen im Bezirk helfen würde, musste er nicht lange überlegen: „So was wie die Naunynritze in Kreuzberg, einen Ort für Kinder und Jugendliche wirklich aller Altersgruppen, Kulturen und Religionen.“ Einen Versuch wäre es wert.
Kirsten Heisigs Buch „Das Ende der Geduld“ (208 S., 14,95 €) kann man versandkostenfrei direkt beim Herder Verlag bestellen.
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