Thomas ist nervös, immer wieder guckt er sich den Text an, den er selber geschrieben hat und gleich vortragen soll. „Das hier“, sagt er, „ist schon ganz
anders als sonst.“ Sonst ist alles vertrauter, die Menschen und die Umgebung. Hier im Warthe-Mahl ist Thomas noch nie zuvor gewesen, und von den etwa 40 Leuten, die gekommen sind, um ihm und sechs weiteren Teilnehmern der LuS-Schreibwerkstatt zuzuhören, kennt er etliche nicht. Außerdem hat er das Vorlesen in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Das zerrt nun alles
an den Nerven des Mannes, der sich erst als Erwachsener an das Beherr- schen des Schriftsprachlichen heran- tastete.
Für Siggi, Kay und Enrico, drei andere aus der Gruppe, für die die öffent- liche Lesung zugleich eine Lebens- premiere bedeutet, ist die Situation noch strapaziöser. Auch wenn es ihnen weniger anzumerken ist, weil eben jeder anders mit Stress umgeht. „Das ist für sie so, als wenn wir auf eine Bühne vor 500 Leuten gestellt werden und dann einen Vortrag über ein Thema halten müssen, mit dem wir uns eher wenig auskennen“, veranschaulicht die beim Neuköllner Alphabetisierungsverein Lesen und Schreiben (Lus) tätige Diplompädagogin Ingan Küstermann.
Zuerst stellt sich Daniel an der Seite des ehrenamtlichen Schreibwerkstatt-Betreuers Klaus (r.) der Herausforderung. Der schlaksige, junge Mann ist ein großer Fan Presley-Fan und so handelt auch seine Geschichte „Elvis ist Elvis“ vom
Leben des King of Rock ’n‘ Roll.
Danach ist Thomas dran. Er wechselt sich beim Vor- lesen seiner Erlebnisse bei den „Olympics in Mün- chen“ mit Klaus ab. Dass er nicht nur ein Fußball-Fan ist, sondern selber im Tor steht, hat ihn im letzten Jahr zu den Special Olympics, dem Sportevent für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung, in die bayerische Landeshauptstadt geführt. Was er nicht aufgeschrieben hat, erzählt er stolz: Zum Beispiel, dass er Teamchef der Kicker-Elf war, und dass er – der ehemalige funktionale An-Alphabet – bereits zwei Bücher mit
Geschichten gefüllt hat, die nun in der Neuköllner Stadtbibliothek ausgeliehen werden können.
Jetta macht es kürzer. Ihre Einführung in das, was sie anschließend vorträgt, dauert fast länger als ihre Lesung mit dem Titel „Letztens haben wir gereimt!“. Manchmal, warnt sie schmunzelnd, würden die Reime zwar inhaltlich keinen Sinn machen, aber dafür würde
sich alles reimen. Zudem wird ihr Spaß am spielerischen Umgang mit Sprache mehr als deutlich.
Mit Siggi, der seit 1 1/2 Jahren an der Schreib-werkstatt teilnimmt, beginnt die Serie der Lebenspremieren. Vorgelesen, sagt er, habe er schon oft, aber dass er eine eigene Geschichte vorliest, das sei das erste Mal. „Der Herbst“ hat er das nachdenklich stimmende Stück genannt, das er für sein Enkelkind geschrieben hat, und in dessen Zentrum der Verkehrsunfall mit einem Kind steht.
Auch die Geschichte von Kay, die „Das Leben ist kein Ponyhof“ heißt, nimmt – wie schon der Titel vermuten lässt – eher einen melodramatischen als heiteren Verlauf. Es sei die erste, erzählt er, die er sich selbstständig ausgedacht und alleine geschrieben hat. Letzteres gilt auch für „Der Leopard und sein Freund“, eine phantasievolle Shortstory von Marcus, die von zwei Raubkatzen handelt, die auf dem Tempelhofer Feld leben. Dazu, sie auch selber vorzulesen, fehlt dem Autor noch der
Mut. Das übernimmt Sabine, die dienstälteste Ehren- amtliche im Betreuerteam der Schreibwerkstatt.
Enrico hat die Hemmungen inzwischen abgelegt, dazu zu stehen, dass auch er zu den Lese- und Schreibschwachen bzw. funktionalen An-Alphabeten gehörte. „Allerdings“, räumt er ein, „ist es heute das erste Mal, dass ich öffentlich etwas vorlese.“ Nein, gibt er zu, von ihm selber stamme „Die Geschichte vom Blumentopf und vom Bier“ nicht. Einen sehr persönlichen Bezug hat das sehr philosophische Stück dennoch: Es endet damit, dass der Protagonist ein Bier trinken geht. „Ich geh lieber ’ne Cola trinken“, nimmt Enrico Anlauf für sein zweites Outing des Abends, „denn ich bin trockener Alkoholiker.“ Davon, dass er es ebenfalls schaffen wird, irgendwann eigene Geschichten vorzutragen, ist auszugehen.
„Kommen Sie in die Welt der Menschen, die die Schrift jeden Tag für sich neu erobern“ – mit diesem Satz hatten die Teilnehmer der Schreibwerkstatt vom Lesen und Schreiben e. V. zu ihrer Lesung eingeladen. Die stilistische und thematische Vielseitigkeit der Geschichten überraschte und beeindruckte das Publikum. Dass die Zahl der funktionalen An-Alphabeten in Neukölln auf 28.000 geschätzt wird, dürfte niemanden mehr überraschen, denn die ist längst bekannt.
=ensa=
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