„Neuköllner Modell“ reloaded: Neues Handlungskonzept für den Umgang mit „kiezorientierten Mehrfachtätern“

Dass Neukölln ein hartes Pflaster ist, ist längst zum unumstößlichen Allgemeinplatz geworden. Doch als im Frühjahr 2015 die bezirkliche Stadtbücherei wegen Drogen-handels, pk handlungskonzept intensivtaeter neukoellnSex und Brandstiftung bundesweit in den Medien zur „Bibliothek des Grauens“ avancierte, war das wohl etwas übertrieben. Ein sehr viel ernsteres Thema beschäftigte die Bezirkspolitik allerdings schon damals: Im Dezember 2014 wurde erstmals öffentlich in der Bezirksverordne-tenversammlung über die Einrichtung einer Abteilung für Intensivtäter aus Großfamilien im Jugendamt beraten. Deren Zielgruppe sollen nicht jugendliche Rowdies wie in der Stadtbibliothek, sondern sogenannte „kiezorientierte Mehrfachtäter“ sein, die zwar eine zahlenmäßig relativ kleine Gruppe seien, aber einen großen Weiterlesen

Ein Platz für die Initiatorin des Neuköllner Modells

blesing_kirsten-heisig-platz neukoellnDie Gegenstimmen der Neuköllner Piraten und die Enthaltungen der Grüne- und Linke-Fraktionen nützten nichts – wie immer, wenn sich SPD und CDU einig sind: Im November beschloss die Bezirksverordnetenver-sammlung, dass im Bezirk eine Straße oder ein Platz „zur Würdigung ihres Wirkens in Neukölln“ nach der 2010 gestorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig benannt werden soll. Freitag, auf den Tag genau vier Monate nach dem Beschluss, war es soweit. Seitdem heißt der bisher namenlose Platz an der Feuerwache Neukölln Kirsten-Heisig-Platz.

Baustadtrat Thomas Blesing hatte zu diesem „beson-deren Anlass im Herzen Neuköllns“ etliche Gäste zu begrüßen: SPD-Delegierte aus Bundestag und Abgeordnetenhaus waren ebenso anwesend wie Weiterlesen

Vom Pflegefall zum Aushängeschild

Wer heute die Genezareth-Kirche sieht, die seit 1905 Zentrum des Neuköllner Schillerkiezes ist, braucht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie es noch vor einigen Jahren um sie bestellt war: Der Innenraum war stark renovierungsbedürftig, das Dach undicht und Gottesdienste fan- den lediglich im Sommer statt, weil der Gemeinde das Geld zum Betreiben der Heizungsanla- ge fehlte. An den seinerzeit desola- ten Zustand des Bauwerks, das schon den einst 62 Meter hohen Glockenturm wegen des benachbarten Flughafens Tempelhof opfern musste, erinnern nur noch Erzählungen von Zeitzeugen.

Heute steht die Genezareth-Kirche proper da. Ihr Backsteingebäude wurde durch Anbauten für ein Café und das Gemeindebüro erweitert, das Innere wirkt dank Architekt Gerhard Schlotter freundlich und vereint Modernes mit Sakralem. Dass dieses möglich wurde, bedeutet jedoch nicht, dass die Gemeinde den Quantensprung von arm zu reich geschafft hat. Hinter der Umkehr vom Verfall zum Erhalt steckt in erster Linie eine kluge Überlegung: Die, sich in den Kiez und für die verschiedenen dort vorherrschenden Glaubensrichtungen zu öffnen und  ein interkulturelles Zentrum in die Kirche zu implantieren. So war der Weg frei für die Akquise öffentlicher Gelder zum Um- und Ausbau des Gotteshauses, die vor allem aus den Töpfen des Quartiersmanagements/Soziale Stadt, dem Umweltent- lastungsprogramm und der Deutschen Fernsehlotterie flossen.

Dieser Tage wurde das fünfjährige Bestehen des Interkulturellen Zentrums Gene- zareth gefeiert, das sich – obwohl im ständigen Werden begriffen, wie Pfarrerin heinz buschkowsky, elisabeth kruse, 5 jahre interkulturelles zentrum genezareth, neuköllnElisabeth Kruse betonte – längst als Ort der Be- gegnung im Kiez etabliert hat. Durch das IZG sei erreicht worden, dass Kirche neu wahrgenommen werde und eine Genussinsel zum Regenerieren schaffe. Dem stimmte auch Neuköllns Bezirksbür- germeister Heinz Buschkowsky gerne zu.

Er sei anfangs skeptisch gewesen, ob es den Verantwortlichen der Genezareth-Gemeinde gelingen würde, ihre Ideen und Visionen zur Realität werden zu lassen. Eine „unglaublich mutige Tat“ sei es gewesen, den Ort wiederbeleben und ihm eine erweiterte Ausrichtung geben zu wollen, die alle Menschen anspricht. Inzwischen sind Buschkowskys Zweifel gewichen. Das IZG habe den Kiez verändert. Konzerte, Theateraufführungen, tanzende junge Leute, die schon einen „recht routinierten Kontakt zur Justiz“ haben, Diskussionen, die Trauerfeier für die Jugendrichterin tanz rund um den globus, 5 jahre interkulturelles zentrum genezareth, neuköllnKirsten Heisig: „Man trifft sich hier, wenn es um etwas Besonderes geht. Das sind die Früchte der Arbeit von Pfarrerin“, so Buschkowsky. Es gebe keine zweite Kirche in Neukölln, durch deren Tür er so oft gehe.

Zu einer kleinen Tanzeinlage mit der Gruppe „Tanz um den Globus“, die auf Initiative der Gemeinde als Beitrag zum Interkulturellen Zentrum entstand, ließ sich Neuköllns Bezirksbürgermeister aber vor vollbesetzten Kirchenbänken nicht hinreißen. Dabei bargen die auf den Tanz sowie die Arbeit des IZG gemünzten Worte von Elisabeth Kruse auch für Buschkowsky einiges an Identifikationspotenzial: „Wir drehen uns im Kreis und kommen trotzdem voran.“

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Heinz Buschkowsky: „Ich will lauter Hüseyins hier haben!“

gedenkveranstaltung für kirsten heisig, heimathafen neuköllnNur noch wenige Plätze waren im großen Saal des Heimathafen Neukölln frei, als Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky die Gedenkveranstaltung für Kirsten Heisig eröffnete. Schon kurz nach deren Tod vor  gut zwei Monaten sei klar gewesen: „Es muss einen Tag geben, an dem wir uns den Inhalten widmen, die sie hinterlässt.“ Gestern war er gekommen.

Im Publikum viele Kollegen, Mitstreiter, Freunde und Angehörige der Jugend- richterin, außerdem Sympathisanten, die durch Sticker am Revers an sie erinnerten, und Menschen, die mehr darüber erfahren wollten, wer diese Frau war, was sie ausmachte und antrieb – bis zur Verzweiflung. Auf dem Podium außer Heinz Buschkowsky die Schriftstellerin Monika Maron, der Schauspieler Hüseyin Ekici, der leitende Oberstaatsanwalt Dr. Andreas Behm, der Jugendrichter Dr. Günter Räcke und Tagesspiegel-Chefkorrespondentin Tissy Bruns, die die Gesprächsrunde moderierte.

Als „nett, sympathisch und dynamisch“ habe er Kirsten Heisig kennen gelernt, aber auch als eine, die „nicht sehr bequem“ war, beschrieb Buschkowksy sie. Hüseyin Ekici widersprach dem nicht, obwohl seine Begegnungen mit der Juristin unter gänzlich anderen Vorzeichen gestanden hatten: Der heute fast 20-Jährige, der es „von der Straße auf die Bühne“ schaffte und nicht türkischer sondern zazaischer Herkunft ist, hatte als jugendlicher Delinquent mit Heisig zu tun. „Aber auch für mich als Täter war ihr Tod ein Schock.“

Einen Schock heilsamer Natur hatte ihm lange vorher bereits seine Mutter versetzt. Wenn er auf Hartz IV machen würde, kündigte sie an, würde sie ihn aus der Wohnung schmeißen. Der in Neukölln Aufgewachsene bekam die Kurve, wurde „vom Opfer zum Schauspieler“ und wird nun von Buschkowsky „Sprachrohr der Neuköllner Jugendgesprächsrunde, hüseyin ekici, monika maron,andreas brehm,tissy bruns,günter räcke,gedenkveranstaltung kirsten heisiggenannt.

Von solchen Müttern müsse es mehr geben, waren sich alle einig. Doch die traurige Wahrheit sei eher, dass Kinder in Verhältnissen aufwachsen, die sie direkt in ein gescheitertes Leben katapultieren. Erzieherische Defizite der Eltern im Zusammenspiel mit einem zu laxen, trägen Umgang mit Schulschwänzern oder -verweigerern und dem, was Recht ist, schaufeln immer neue Jugendliche auf die schiefe Bahn. „Die Hälfte aller Neuköllner Grundschüler ist davon betroffen“, prognostizierte Heinz Buschkowsky, der als Lokalmatador die anderen Diskutanten in puncto Redezeit und Szenenapplaus weit hinter sich ließ.

Bei der Frage, was Kirsten Heisig durch ihre Arbeit erreicht habe, gingen die Meinungen aufgrund unterschiedlicher Perspektiven jedoch stark auseinander. „Sie hat beim Umgang mit Jugendkriminalität besonders viel bewegt“, erkannte Günter Räcke an. Der Jugendrichter hatte seinerzeit zusammen mit Heisig das Neuköllner Modell, das inzwischen für ganz Berlin gilt, angeschoben. Wohlwissend, dass dabei vieles gesagt werden müsse, was andere nicht hören wollen: „Wir hatten ja bis dahin kein Denk-, aber ein Sprech-Tabu.“ Kirsten Heisigs schonungslose Offenheit war es auch, die Monika Maron und einer Gruppe von Kreativen die Augen für das Thema öffnete. Die Schriftstellerin lud die Richterin ein, den Künstlern von ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. „Die waren“, so Maron, „von den Tatsachen zuerst regelrecht scho-ckiert.“ Für die Zukunft fordert sie vor allem eine Veränderung des Diskussions-klimas, damit eine Bereitschaft entstehen kann, das Problem als gesamtgesell-schaftliches zu sehen. „Durch Heisig“, bilanzierte Oberstaatsanwalt Andreas Behm, „ist die Wichtigkeit der Vernetzung unterschiedlicher Ebenen erkannt worden.“ Hüseyin Ekici nickte zustimmend, Heinz Buschkowsky bestätigte, dass die „Versäulung der Behörden“ wirklich ein riesiges Problem sei.

„Warum aber muss sich ganz Deutschland dafür interessieren, was in Neukölln los ist?“, schickte Tissy Bruns als Frage in die Schlussrunde. Weil Jugendkriminalität ein anschwellendes Problem sei, entgegnete Monika Maron. „Machen wir uns doch nichts vor!“, mahnte Andreas Behm. „Das Problem gibt’s überall, nur ist die Kriminalität in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein eben eine andere als in Berlin.“ Ausgerechnet Neuköllns Bezirksbürgermeister war es, der dann doch noch einen ins Gespräch brachte, dessen Name während der gesamten Diskussion nicht gefallen war. Auch Buschkowsky verschwieg ihn, stellte lediglich fest, dass momentan große Aufregung über ein anderes Buch herrsche. Er verurteilte die „Politik by Helicopter„, das Abheben mit großem Getöse, bei dem eine Menge Staub aufgewirbelt werde, und danach sei wieder alles wie vorher: „Wenn nicht schnell erkannt wird, dass es in erster Linie die Schwachen sind, die einen starken Staat brauchen, bricht das ganze gesellschaftliche System Deutschlands in sich zusammen.“

Für einen Schlusspunkt mit mehr Optimismus sorgte Hüseyin Ekici. Befragt, was Neukölln und den Jugendlichen im Bezirk helfen würde, musste er nicht lange überlegen: „So was wie die Naunynritze in Kreuzberg, einen Ort für Kinder und Jugendliche wirklich aller Altersgruppen, Kulturen und Religionen.“ Einen Versuch wäre es wert.

Kirsten Heisigs Buch „Das Ende der Geduld“ (208 S., 14,95 €) kann man versandkostenfrei direkt beim Herder Verlag bestellen.

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