„Wie macht der das?“ Viele Fragen wurden an diesem Abend im Zeichen der Toleranz gestellt und beantwortet. Die, wie Cihangir Böge, der Derwisch-Tänzer des Ensembles Salsabil, es schafft, sich minutenlang mit wehendem Rock und wechselnden Posen um die
eigene Achse zu drehen, ohne dabei oder hinterher ins Taumeln zu kommen, blieb offen. Er könne sich das auch nicht erklären, obwohl das Der- wischdrehen ja eine Tra- dition in dem Kulturkreis sei, aus dem er stamme, musste Moderator Kemal Hür der ebenfalls staunenden und ratlosen Pfarrerin Elisabeth Kruse gestehen. Bevor es für das Publikum in vier Gruppen mit gemächlicherem Kreisen beim Entdecken neuer Wege der Kommu-nikation weiterging.
Kugellager wird das spielerische Experiment vom Treffpunkt Religion und Gesell- schaft genannt, weil es nach eben diesem Prinzip funktioniert. In einem Innen- und einem Außenkreis saßen sich Gläubige jeglicher Couleur und Atheisten, Junge und Ältere, Frauen und Männer gegenüber, um sich nach dem Erklingen eines Gongs durch Fragen und Antworten ersten Eindrücke vom bis dato unbekannten Vis-à-Vis
verschaffen zu können. „Es war so span- nend wie ein Speed Dating“, sagte eine junge Frau hinterher begeistert. Es sei ein großartiges System, um in kürzester Zeit Kontakt zu vielen Menschen zu be- kommen und sehr aufschlussreich, wenn man nicht nur die richtigen Fragen stellt, sondern auch aufmerksam zuhören kann, fand ein Mann. Dass Moderator Kemal Hür anschließend mehrmals darum bitten musste, die Gruppenräume zu verlassen und zur Podiumsdiskussion zu kommen, spricht für den Erfolg der Methode und das Kommunikationsbedürfnis.

v. l.: Nilgün Hascelik (TDZ Türkisch-Deutsches Zentrum), Pfarrer Dr. Eckhard Zemmrich, Kemal Hür, Falko Liecke (CDU Neukölln), Pinar Cetin (DITIB)
Die Gesprächsrunde auf dem Podium sollte nun wieder den Fokus auf das Kernthema Toleranz lenken und es aus verschiedenen religiösen und gesellschaftlichen Per- spektiven beleuchten. Schon bei Falko Lieckes Statement wurde dabei deutlich, welcher Graben zwischen Theorie und Praxis liegt bzw. wie unter-schiedlich dieser wahrgenommen und überwunden wird. Er halte es mit dem Alten Fritz und dessen Grundsatz, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle, meinte der Neuköllner Jugend- und Gesundheitsstadtrat. Wichtig sei eben zu beachten, dass die eigene Freiheit dort aufhört, wo die des anderen beginnt. Diese Grenze müsse in einer funktionierenden Gesellschaft anerkannt und ihr Übertreten sanktioniert werden. Er leite Toleranz von seinem Gottesverständnis ab, erklärte Pfarrer Dr. Eckhard Zemmrich: „Ich muss mich damit abfinden, dass Muslime Jesus anders sehen. Entscheidend ist dabei, dass wir einander zeigen, dass wir miteinander zu tun haben wollen.“ Als einen wahren GAU bezeichnete der theo- logische Grundsatzreferent es, „die eigene Religion mit den schlechten Beispielen der anderen Religion zu vergleichen.“
Toleranz sei für ihn ein aktives Dulden, das bestenfalls auf Gegenseitigkeit beruht, oft aber nur einseitig ist.
„Bei der politschen Definition von Toleranz gibt es also Sanktionen, bei der theolo-gischen aber nicht“, stellte Kemal Hür fest.
Pinar Cetin verwies in ihrem Statement zunächst auf die Übersetzungen des Wor- tes Toleranz in die arabische und türkische Sprache. Im Arabischen sei vom Tragen einer Last, vom Aushalten und Annehmen die Rede, im Türkischen davon, mit positiven Gedanken auf etwas zu blicken. „Vielleicht“, vermutete sie, „ist die sprachliche Herkunft für das entscheidend, was wir unter Toleranz verstehen.“ Praktisch machte die stellvertretende Vorsitzende der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) e. V. ihre begriffliche Definition an einem aktuellen Bei- spiel fest: Vor einigen Wochen hatten Aktivistinnen der Femen-Bewegung mit freien Oberkörpern vor einer Moschee gegen das Kopftuch von Musliminnen protestiert. Da sei für sie die Grenze des Tolerierbaren erreicht, sagte Pinar Cetin und empfahl, „dass die Femen-Frauen lernen sollten, dass Freiheit nicht immer das ist, was sie sich vorstellen.“ Für Nilgün Hascelik, die als Letzte an der Reihe war, blieb nicht mehr viel mehr übrig als eine Kritik an der Lesart des Wortes Toleranz. Es sei sehr negativ behaftet, weil es Passivität projiziert. „Besser gefällt es mir, wenn jemand
oder etwas akzeptiert oder respektiert wird“, hielt sie fest.
Um all das, in gescheiterter Form oder Vollendung praktiziert, ging es auch beim humoristisch auf- bereiteten Punkt, den Eva-Maria Rastlos zwischen Diskussion und Büffet setzte. Die Komödiantin, die bürgerlich Dorothee Schaper heißt und Pfarrerin an der Melanchthon Akademie ist, sezierte in kölscher Mundart
die Vielzahl an kommunikativen und kulturellen Fallstricken, die zwischen Neukölln und Köln, zwischen Gläubigen der Weltreligionen und auf dem Weg zu Toleranz, Akzeptanz und Respekt lauern. Mit ihrem Rezept, miteinander zu streiten und zu lachen, kommt man schon einen Schritt weiter. Wie es um das fürs alltägliche Mitein- ander ebenfalls vorteilhafte Talent bestellt ist, über sich selber lachen zu können, testete sie sogleich mit karnevalesken Accessoires an den völlig überrumpelten Vertretern dreier Religionen: Ender Cetin von der Sehitlik-Moschee, Elisabeth Kruse von der Genezareth-Gemeinde und Maya Zehden vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus schlugen sich achtbar.
Wer sein Talent beim Derwisch-Drehen testen will, kann das jeden Sonntag ab 15 Uhr und mittwochs ab 18.30 Uhr im Sufi-Zentrum Berlin tun.
=ensa=
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