Wenn Cengizkhan Hasso über sie spricht, klingt es, als würde er über die australische Hardrock-Band AC/DC reden und dabei das letzte C verschlucken. Doch um Musik ging es bei der Infoveranstaltung mit Podiums- diskussion nicht, zu der die Neuköllner Gleichstellungs- beauftragte Sylvia Edler und der Migrationsbeauftragte Arnold Mengelkoch eingeladen hatten. Zentrales Thema waren die Yeziden, eine kurdische Volksgruppe mit eige-
ner, hierzulande noch weitgehend unbekann- ter Religion.
Um dem Zustand des Un- wissens und fatalen Nährbodens für Vorurteile durch fundierte Informationen zu begegnen, hatten Edler und Mengelkoch vier Experten ins Neuköllner Rat- haus eingeladen: Sukriye Dogan, die Iranistik und Erziehungswissenschaften studierte und heute Mit- arbeiterin im Jugendmigrationsdienst des Diakoni- schen Werk Neukölln ist, die Dolmetscherin und Schulsozialarbeiterin Nurhan Kizilhan, den Sozialpädagogen Yilmaz Günay und den Psychologen Cengizkhan Hasso, der – ebenso wie Kizilhan und Günay – den Yezi- den angehört und den Status des Geistlichen inne hat.
Wer sind also diese Yeziden? Was macht ihre Kultur und Religion aus, was unterscheidet sie von anderen? Weshalb muss man sich mit dem Yezidentum beschäftigen und wie viele Anhänger der Religion gibt es denn überhaupt? Die Kapazitäten des Köln-Zimmers im Neuköllner Rathaus stießen an ihre Grenzen, noch nach Beginn der Veranstaltung ebbte der Zustrom Informationshungriger nicht ab, ständig mussten weitere Stühle herbei geschafft werden. Knapp 100 Menschen waren es schließlich, die sich die immer dünner werdende Luft im Saal zu teilen hatten. „Etwa 1 Million Yeziden gibt es weltweit, die Zahl der in Deutschland lebenden
wird aktuell auf 120.000 geschätzt und in Berlin wohnen gut 250 Fami- lien yezidischen Glaubens“, erklärte Sukriye Dogan. Die Tendenz sei stei- gend, da Yeziden in der Türkei verfolgt würden, viele in den Irak und nach Syrien geflüchtet waren, dort nun ebenfalls um ihr Leben fürchten müssten und nach Deutschland kom- men, um der Bedrohung zu entgehen: „Hier sind sie schon seit 1989 als verfolgte religiöse Gemeinschaft anerkannt und im Raum Hannover, Bielefeld und Oldenburg mit größeren Gemeinden vertreten.“ Dass das religiöse Leben der Yeziden unauffälliger als das von Christen oder Muslimen stattfindet, sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass zur Ausübung der Religion keine Gotteshäuser ge- braucht werden. Sie haben lediglich die Tempelanlage im irakischen Lalisch als religiöses Zentrum. Was das Yezidentum außerdem von anderen Glaubensrich-
tungen unterscheidet, ist, dass es keine Buchreligion, sondern von der mündlichen Überlieferung geprägt ist, und dass man nicht konvertieren kann, sondern als Yezide geboren wird – in ein striktes Kastensystem hinein.
Insbesondere letzteres bereite nach Deutschland migrierten Yeziden der zweiten und dritten Generation größte Probleme, berichtete Nurhan Kizilhan, die seit 1986 in Berlin lebt und derzeit an einem Dokumentarfilm über yezidische Frauen arbeitet: „Die Religion schreibt ihnen vor, dass als Partner nur jemand infrage kommt, der ebenfalls Yezide ist und zur selben Kaste gehört. Aber wer erkundigt sich schon zunächst danach und verliebt sich erst dann?“ Dazu kommen Konflikte, die denen vieler anderer Migranten aus traditionsbeladenen Kulturen gleichen, wenn
starre Sitten und Gebräuche des Herkunftslandes auf neue Möglich-keiten in der neuen Heimat treffen. Es seien enorme psychosoziale Belas-tungen, die sich aus dieser ambiva-lenten Haltung hinsichtlich des Le- benskonzepts ergäben, und das gel- te gleichermaßen für yezidische Frau- en und Männer.
Um ihnen zu helfen, wurde 2004 u. a. durch Yilmaz Günay in Neukölln der MIB e. V. gegründet. „Das Anliegen war“, der Sozialpädagoge, „eine Anlaufstelle für yezidische Gemeindemitglieder und Neuankömmlinge zu sein und ihnen Orien- tierung für das alltägliche Leben in Deutschland zu bieten.“ Schließlich dürfe man auch nicht außer Acht lassen, dass das Bildungsniveau in den Herkunftsländern sehr niedrig ist, es unter Yeziden viele An-Alphabeten gebe und die meisten erst in Europa mit Bildung und einer modernen Gesellschaft in Berührung kommen. Weil die Aus- stattung mit finanziellen Mitteln endete, musste der Verein seine Arbeit 2010 jedoch wieder einstellen. Der Ist-Zustand sei, dass die besondere Situation der Yeziden bei
allen staatlichen Integrationsmaßnah- men nicht berücksichtigt wird. „Und das ist ein Skandal!“, echauffierte sich Yilmaz Günay (l.).
Cengizkhan Hasso (r.), der zur Kaste der Sheikhs gehört, pflichtete ihm bei. Yezi- den seien seit Jahrzehnten Bestandteil der deutschen Gesellschaft, deshalb müsse Deutschland auch eine Infra- struktur schaffen und Aufklärungsar- beit finanzieren. „Aber stattdessen wer- den Angebote zum Nulltarif durch Ehren-amtliche erwartet“, warf er nicht nur Arnold Mengelkoch vor, der schweigend neben ihm saß. Mehr noch würde das Yezidentum schon dadurch, dass es häufig in einem Atemzug mit dem Islam erwähnt werde, gerne von einer Religion zum Politikum gemacht. „Tatsache ist aber, dass es zwischen Yeziden und Christen mehr Verbindungen als zu Muslimen gibt.“ Auch das mit den Kasten werde oft aus Unwissenheit oder rigiden Verhaftungen im Traditionellen instrumentalisiert. „Das Kastensystem“, so Hasso, „ist wesentlich durchlässiger als meist behauptet wird.“
Wie es denn mit Gewalt sei, fragte jemand aus dem Publikum und erinnerte an die Ermordung zweier yezidischer Mädchen durch Familienangehörige in 2011. „Gewalt ist in unserer Religion verboten, nur zur Selbstverteidigung nicht“, räumt der Geistliche ein. Wie stehen Yeziden zum Thema Beschneidung? Die sei keine religiöse Vorschrift, antwortete Cengizkhan Hasso. Ob es bei Yeziden, wie bei Mus-
limen, Bestimmungen beim Essen gebe? „Nein, bei uns ist weder Schweinefleisch noch Alkohol verboten.“ Überhaupt sei das Yezidentum eine äußerst tolerante Religion. Das klinge wirklich alles sehr fortschrittlich, bestätigte Sylvia Edler: „Leider erfahren wir aber in unseren Bera- tungsstellen oft genau das Gegenteil.“
Eine Mischung aus Verwirrung, gestilltem Wis- sensdurst und weiteren Fragen begleitete die meisten, die nach knapp drei Stunden das Rathaus verließen. In der Broschüre „Religionen in Neukölln“, deren überarbeitete Fassung am 21. März präsentiert wird, werden sie nichts Neues erfahren. „Obwohl die meisten yezidi- schen Familien, die nach Berlin kommen, in Neukölln leben, spielen die Yeziden in unserem Religionsführer keine Rolle“, musste Arnold Mengelkoch zugeben.
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