Die Gerüche von Rostbratwürsten, gebrannten Mandeln, regennassen Bäumen und Büschen, Zuckerwatte, Schweiß und Parfüms vermischen sich zu einem olfakto- rischen Brei. Der Boden unter den Schuhsohlen ist uneben und weicher als Asphalt,
überall lauern matschige, nur langsam abtrocknende Pfützen- überbleibsel. In die Ohren dringt eine Kakophonie aus Stimmen, Musikalischem von Schlager bis Hip Hop, kreischenden Men- schen, dumpfem Grollen, mono- tonem Rattern und Schritten auf metallenem Untergrund. Die bunten, blinkenden Lichter der Karussels und Fahrgeschäfte und die in der Losbude gestapelten Trostpreise und Hauptgewinne sind zur relativen bis totalen Bedeutungslosigkeit degradiert, weil die Augen sie nicht oder nur sche- menhaft wahrnehmen können.
Diese Erlebnisse boten sich gestern 15 Sehbehinderten und Blinden bei den Neu-
köllner Maientagen. Auf Initiative von Siegfried Helias (M.), Vorsitzender der City Stiftung Berlin, wurde die Gruppe des Allgemeinen Blinden- und Seh- behindertenvereins Berlin (ABSV) von Thilo-Harry Wollenschlaeger (r.), dem Organisator der Neuköllner Maien- tage, zu einer kostenlosen Rummel- runde eingeladen. Es sei ihm einfach ein Bedürfnis gewesen, so Helias, den Gehandicapten die Gelegenheit zu bieten, an dieser Variante des „ganz nor- malen Lebens teilnehmen“ zu können. Wollenschlaegers Reaktion im Beisein des Neuköllner Gesundheitsstadtrats Falko Liecke (l.), dass jede Tradition ja irgendwann
anfange, lässt mehr als vermuten, dass die gestrige Premiere nicht zugleich das Finale seines Engage- ments in dieser Richtung war. Der von Helias als „Rummel-König“ Titu- lierte, erklärte die Begleitung der Gruppe kurzerhand zur Chefsache und war – ebenso wie der Clown und Entertainer Pauly – bis zum Schluss dabei.
Das trifft auch auf Jörg zu. „Meine Sehfähigkeit lässt sich in Prozent nicht mehr messen“, erzählt er über 30 Meter von sicherem Boden entfernt in der schwankenden
Gondel des Riesenrads. Die Aussicht auf weite Teile Berlins und die dunkelgrauen Wolken ist nichts, was ihn beeindrucken kann. Vor 21 Jahren ging ihm wegen irreparabel geschädigter Sehnerven „innerhalb weniger Tage“ jeglicher Sinn fürs Vi- suelle verloren. Eine Freundin, die ihn begleitet, beschreibt ihm, was sie sieht: viel Grün, große bunte Drachen auf dem Tempelhofer Feld, den Fernsehturm. Durch den stärkeren Wind, sagt er, spüre er die Höhe, seinem Gleichgewichtssinn kann das Erlebnis jedoch nichts anhaben. Der ist durch das Bergsteigen und das Klettern, das der 42-Jährige auch trotz Behinderung weiterhin betreibt, immun gegen Irritationen. Erst als es gilt, die Gondel wieder zu verlassen, ist wieder die Unsicherheit da, die seit der Erblindung mit dem Betreten unvertrauten Terrains einhergeht: Wo fängt die Stufe
an? Wie breit ist sie? Wo hört sie auf? Er fährt seinen weißen Teles- kopstock aus, um zu ertasten, was er nicht mehr sieht.
Pauly und Thilo-Harry Wollenschläger schlagen den Melodie Star als nächs- te Station vor. Was ein Riesenrad ist, musste niemandem erklärt werden, doch wie beschreibt man Blinden ein Karussell, das sie nicht kennen? Jörgs Begleiterin, geübt im Umgang mit ihm, schafft es. Die Entscheidung, damit fahren zu wollen, ist vermutlich schon beim Stichwort „schnell“ gefallen. Denn Schnelligkeit fasziniert den erfolgreichen Handicap-Sportler: Er ist Deutscher Meister im Speed-Skating und nahm im letzten Jahr als einziger Blinder am Berlin Skate-
Marathon teil.
Die Geisterbahn wollen auch die ausprobieren, die sich vor Höhe und Geschwindigkeit fürchten. Nur wenige lösen ihre Freikarte nicht ein. Ihr sei es im Dunkeln unheimlich, sagt eine Frau, die zu denen gehört. Sie nimmt ihre Umwelt nur noch schemenhaft wahr, kann aber hell und dunkel sehr wohl unterscheiden. „Ich schlafe auch bei Licht“, erklärt sie grinsend – ahnend, wie verblüffend dieses Geständnis auf Sehende wirkt. Als es nach der rumpeligen Fahrt durch das Reich des Gruselns hinüber zu den Autoscootern geht, wirkt der Geisterbahn-Effekt nach. „Nie wieder!“, sind sich die meisten einig. Die lauten Geräusche, die schweren Vorhänge, die einem über Körperteile streichen, die abrupten Wechsel zwischen Dunkelheit und
Helligkeit – das sei hochgradig unangenehm gewesen.
Nass wird es am nördlichen Ende des Festgeländes. Doch zunächst muss der Rummel- König genau erklären, was es mit der Wildwasserbahn „Atlan- tis Rafting“ auf sich hat. Dass die runden Tassen, die über die Strecke schaukeln, nicht fliegen und es auch keine unheim- lichen Geräusche oder Lichteffekte gibt, verschafft dem Fahrgeschäft spontan Sympathien. Man werde eben ein bisschen nass, sagt Wollenschlaeger. Und hinter-


her könne man sich ein Foto ausdrucken lassen, das beweist: Ich war dabei! Das wollen alle, egal ob Kleidung, Haare oder der beim Quiz mit Pauly gewonnene Schlumpf eine Dusche abkriegen. „War das schön“, schwärmt Heidi nach der Fahrt und wringt den nassen Fleck an ihrer Hose aus. Ihre Begeisterung gilt aber nicht nur der Wildwasserbahn, sondern dem Ausflug zu den Neuköllner Maientagen an sich. Seit ihrer Erblindung vor acht Jahren sei sie zum ersten Mal wieder auf einem Rummel. Lust, sagt sie, hätte sie allerdings durchaus schon vorher gehabt: „Aber ich hab mich nicht getraut, jemanden zu fragen, ob er mich begleitet, denn ich falle ja schon so oft Leuten zur Last, weil sie mir im Alltag helfen oder Dinge beschreiben müssen, die ich nicht kenne.“ Neulich sei es ein Alpaka gewesen, von dem sie unbedingt wissen wollte, wie das Tier aussieht. Rund eineinhalb Jahre habe sie gebraucht, sich mit ihrer
Blindheit abzufinden. Das sei die härteste Zeit ihres Lebens gewesen. „Aber ge- genüber den Geburtsblinden hab ich wenigstens den Vorteil“, findet Heidi, „dass ich schon vieles gesehen hab und auf die Erinnerungen zurück- greifen kann.“ Das, gibt sie zu, mache aber auch oft ein bisschen traurig.
In die High Explosive-Achterbahn will Heidi nicht, viele andere schon. Jörg natürlich auch, denn sie ist schnell. Danach gibt es an der Knabber-Lok gebrannte Mandeln für
alle. Der Abschluss der Rummelplatz-Runde führt zu einer der großen Attraktionen des Volksfestes in der Hasen- heide: dem Rocket. Erneut muss erklärt werden, was die Mägen und Sinnesorgane in dem gelb-schwarz blinkenden High Tech-Fahrgeschäft erwar- tet. Eigentlich sieht es ob der Attribute „hoch und schnell“ nach einem klaren Fall für Jörg aus. Doch es sind zwei andere Männer und eine Frau, über denen die Sicherheitsbügel zuklappen. Jörg hat Hunger auf Bratwurst. Schon die ganze Zeit. „Ist ja auch kein Wunder bei den Gerüchen hier“, sagt er.
Nach zwei Stunden Rummel sind alle glücklich. Auch Paloma Rändel, die für den ABSV die Gruppe begleitet hat. „Anfangs“, sagt sie, „war ich ja skeptisch, ob das Angebot für diesen Gruppenausflug überhaupt jemanden interessiert. Aber nun sehe ich, dass es supergut angekommen ist.“ Heidi nickt und kündigt an, dass sie sich nun auch wieder ohne den Schutz einer Gruppe zu Volksfesten trauen wird.
=ensa=
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