Nicht nur in Deutschland, auch in Neu- kölln hat sich manches verändert seit Birgitt Claus, die Ex-Krankenschwester und spätere Lehrerin für Ernährungs-wissenschaften, das Abenteuer Selbst-ständigkeit begann und ihre Ein-Frau- Firma beim Gewerbeamt anmeldete: An diesem 1. Juni 1998 hatte man bun- desweit schriftsprachlich noch Streß, wurde geküßt oder setzte einen Schluß– punkt – und Neukölln hatte noch eine diplomatische Vertretung am Richardplatz. Erst Jahre später gab der Rechtsanwalt im Nachbarhaus des jungen Unternehmens mit dem programmatischen Namen eßkultur seine Tätigkeit als Honorarkonsul von Benin auf. Nur zwei Monate später
trat die Rechtschreibreform in Kraft, die regelte, dass das ß nach einen kurzen Vokal fortan durch ein Doppel-s zu ersetzen sei. An dem Eigennamen eßkultur, unter dem seit nunmehr 15 Jahren Kochkurse, Caterings, kulinarische Lesungen und Reisen veranstaltet wer-
den, konnte das nicht rütteln.
Vor fünf Jahren sicherte sich Birgitt Claus mit der Gründung des Sammlung Esskultur e. V. auch die heutzutage orthografisch korrekte Schreibweise des Begriffs. Damals, blickt sie zurück, habe sie angefangen, Objekte zu sammeln, die die Kulturgeschichte des Essens erzählen: „Irgendwann soll mal ein richtiges Museum daraus werden.“
Bei der Feier des 15-jährigen Firmenjubi- läums legte sie mit der Eröffnung des Neu- köllner Schaudepots den Grundstein dafür. „Jahrelang mussten wir die vielen Küchen- sachen, die uns bisher gespendet wurden, im Keller aufbewahren, bis der völlig über- füllt war“, erzählt die 48-Jährige. Eine umfangreiche Henkelmänner-Kollek- tion, das auf einer Kohle- oder Gasflamme zu betreibende Backwunder, Rührutensilien unterschiedlichster Epochen, Aufbewahrungsbehältnisse, ein stromlos funktionierender
Kühlschrank – all das kann nun in ebenerdigen Räumen im Hof des Firmensitzes präsentiert werden. „Früher waren das Stallungen“, sagt Birgitt Claus, immer noch glücklich darüber, dass
ihr die Stadt und Land als Eigentümerin das ungenutzte, unter Denk- malschutz stehende Gebäude zu einem außerordent- lich fairen Mietzins überließ: „Es muss zwar noch viel improvisiert werden, weil noch einiges zu machen ist, neue Fenster zum Beispiel, aber es ist absehbar, dass wir bald Räume haben, wie wir sie uns vorstellen.“ Schön im landläufigen Sinne sind die wahrlich nicht, doch sie haben Charme und Geschichte und passen damit perfekt zu den Exponaten. Und sie bieten auch größeren Objekten, die unabdingbar zum Essen gehören, Platz. „Zum Beispiel für eine alte Kücheneinrichtung aus der Hufeisensiedlung. Die zu bekom
men, wünsche ich mir sehr.“
Andere Wünsche der eßkultur-Chefin, die inzwi- schen über 30 Mitarbeiter beschäftigt, sind kleiner: „Die älteste Konservendose der Welt und einen Sonja-Kaffeefilter aus der DDR suche ich noch.“ Ebenfalls immer willkommen sind Salzstangen-halter, die zur Erweiterung der vielen bereits vor- handenen Exemplare beitragen und langfristig die größte Salzstangenhalter-Sammlung der Welt er- geben sollen. „Wir sammeln eben nicht nur Praktisches, sondern auch sinnloses Schönes.“
Was ein solcher Aufruf bewirken kann, ist Birgitt Claus durchaus bewusst. Sie führt in den Keller, der immer noch vor küchenkulturellen Schätzen überquillt, und deutet auf das Regal mit der Piccolo-Sammlung. Das Haushaltsgerät, das im Grunde nur aus einem Motor bestand, der mit verschiedensten Aufsätzen vom Entsafter bis zum Staubsauger eingesetzt werden konnte, sei früher als „der kleine Freund der Hausfrau“ vermarktet worden, erzählt sie. „Nachdem ich in der SWR-Fernsehsendung ‚Sag die Wahrheit‘ von unserem Museum für Esskultur und der Suche nach dem Blattläuse-Aufsatz für
den Piccolo berichtet hatte, wurden wir förmlich mit Piccolos überhäuft.“ Ein Mit- arbeiter sei daraufhin erstmal kreuz und quer durch Deutschland gefahren, um Küchenmaschinen bei den Spenderin- nen abzuholen. Die Geschichten über oft jahrzehntelange treue Dienste des multi-funktionalen Helfers brachte er eben- falls mit: „Schließlich geht es uns nicht nur die Objekte, sondern wir wollen auch die Geschichten dahinter erfahren und
weitererzählen können.“ Auch die sollen als Teil der Esskultur erhalten bleiben statt in Vergessenheit zu geraten.
Birgitt Claus zieht einen Koffer aus einem der Regale und öffnet ihn. Mit dem ver- bindet sie eine äußerst persönliche Ge- schichte: „Das war der Picknick-Koffer meiner Eltern und zugleich der Flucht-Koffer, mit dem sie acht Tage vor der Maueröffnung die DDR verlassen haben.“ Der Inhalt sei folglich nicht mehr authentisch.
An fünf Tagen pro Jahr wird das Neuköllner Schau- depot künftig geöffnet sein: Während der 48 Stunden Neukölln und des Rixdorfer Weihnachtsmarkt können sich die Besucher dann die gesammelten Zeitzeugnisse der Ess- und Küchenkultur ansehen, kündigt Birgitt Claus an. Nur mit der Öffnung beim diesjährigen Kunstfesti- val wird es leider noch nichts werden.
=ensa=
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