Die Idee, der Chronik „Čermná v proměnách staletí“ deutschsprachig zu entsprechen, hatte der Freunde Neuköllns
e. V. bereits 2004, als das Buch anlässlich der 700-Jahr-Feier des Ortes in Tsche- chien editiert wurde. Neu belebt wurde der Gedanke
allerdings erst jetzt im Ge- denkjahr der Auswanderung der Böhmen vor 275 Jahren aus dieser Gegend wieder. Und so wurde nunmehr das Original vom Verein übersetzt, bearbeitet und mit dem Titel „700 Jahre Čermná – Ge- schichte eines ostböhmischen Dorfes“ herausgegeben. Letzten Freitag stellten Manfred Herrmann, Dieter Herr- mann und Christian Kölling als Vertreter des Freunde Neuköllns e. V. die deutsche Ausgabe des Buches bei einer Pressekonferenz im Comenius-Garten vor.

(v. l.: Veronika Patočková, Vladimír Hejl, Alena Vojtková, Lenka Ptáčková und Manfred Herrmann)
Manfred Herrmann vom Vereinsvor- stand moderierte die Buchpräsen- tation und machte zunächst die Gäste aus Čermná bekannt: Vero- nika Patočková, eine der drei Über- setzerinnen des Buches, die die Veranstaltung auch dolmetschte, Vladimír Hejl, den Kurator der Ge- meinde der Evangelischen Kirche in Horni Čermná, Alena Vojtková, die amtierende Stadträtin und ehe- malige Bürgermeisterin des Ortes, sowie Lenka Ptáčková, einer Lehrerin der Elementarschule Základní škola. „Im Ver- gleich mit der tschechischen Ausgabe ist das deutsche Werk zum Einen leicht gekürzt, andererseits aber auch durch Erläuterungen ergänzt worden“, berichtet Manfred Herrmann, der die Redaktion des Buches vorgenommen hatte. Schließlich könne nicht bei allen Lesern vorausgesetzt werden, dass ihnen Namen wie Reinhard Heydrich oder Tomáš Masaryk geläufig sind.
Anhand von projizierten Bildern, von denen die Mehrzahl im Buch enthalten ist, beleuchtet Herrmann einige Details, und so ist zu erfahren, dass Čermná 1936 geteilt wurde in Horni (Ober-) und Dolní (Unter-) Čermná, damals auch „Böhmisch Rothwasser“ genannt. Grund für die Teilung waren die seit vielen Jahrzehnten gepflegten Querelen, z. B. um die Lage von kommunalen Einrichtungen wie Schule, Feuerwehrhaus und anderen. Dazu muss man wissen, dass sich der Ort über sieben Kilometer hinzog, sodass die für die Bürger zurückzulegenden Wege in damaliger Zeit schon eine gewichtige Rolle spielten. Ein weiterer Dissenspunkt ergab sich daraus, dass die Bewohner des unteren Teils überwiegend römisch-katholisch und die im oberen protestantisch waren. Dass die Rivalität auch heute noch vorhanden ist, macht er daran fest, dass für Dolní Čermná eine eigene Chronik
herausgebracht worden ist.
In Horní Čermná gibt es zwei Kirchen, die Evangelische Kirche und die Wallfahrts- kirche auf dem Berg Mariánská Hora. Ein Antrag auf den Bau eines evangelischen Bethauses wurde bereits im Jahre 1785 an die Herrscher gestellt. Es sollte an einer geeigneten Stelle gebaut werden, die der katholischen Gemeinde nicht im Weg stehen und weit genug von der katholischen Kirche entfernt sein sollte. Der Eingang durfte nicht in Richtung des Hauptwegs zeigen, und es durfte keinen Turm und keine Glocke haben. Mit dem Bau wurde im Jahre 1787 begonnen. Das Kirchengebäude war sehr bescheiden. Es stand nicht an der Stelle der heutigen
Kirche, sondern einige Meter weiter in Richtung Feld.
Schon bald war es allerdings sowohl hinsichtlich der Räumlichkeiten als auch hinsichtlich des baulichen Zustands nicht mehr geeignet, so dass im Jahre 1836 der Grundstein für die neue Steinkirche gelegt wurde. Im Jahre 1839 wurde diese vollendet. Erst im Jahre 1884 erlaubte man, die Kirche um einen 23 Meter hohen Turm mit goldener Kuppel und Stern zu ergänzen.
Zur Wallfahrtskirche wird erzählt, dass der Fuhr- mann A. Keprta im Jahre 1814 eine Ladung von Mühl- steinen durch diese Gegend transportierte. Auf der holprigen Straße überschlug sich der Wagen und der Fuhrmann blieb unter dem Wagen eingeklemmt. Als er die Jungfrau Maria um Hilfe bat, erschien eine strahlende Dame, die ihm half. Im Jahre
1864 wurden hier eine Kapelle und im Jahre 1875 die heutige Kirche gebaut, in deren Inneren die Kapelle erhalten blieb.
Auf dem historischen Foto ist neben der Kirche links das Haus „Rychta“ zu sehen. Ob es im Deutschen mit Bürgermeister-, Schultheißen- oder Richteramt wiederge- geben werden sollte, ist nicht eindeutig, gewiss ist, dass die dort tätigen Amtsträger nicht gewählt, sondern von der Herr-
schaft eingesetzt wurden.
Neben der zeitweilig vorhandenen Textilindustrie und der Ziegelei ist es Manfred Herrmann (r., mit Henning Vierck, dem Leiter des Comenius-Gar- tens) wichtig, auf die Sokol-Turnhalle hinzuweisen. Sie sei Symbol für eine Turnbewegung, ähnlich der
um Ludwig Jahn, die neben der Körperer- tüchtigung auch den nationalen Impetus beinhaltete. Aus den Mitgliedern, erklärt Herrmann, hätten sich dann auch Soldaten rekrutiert, die – obwohl sie der österreichischen Wehrpflicht unterlagen – auf Seiten der Russen oder Franzosen gegen die Österreicher kämpften, um einen
unabhängigen Staat Czechoslowakei zu erlangen.
Ein besonderes Kuriosum aus der Besatzungszeit wird auf einem weite- ren Bild deutlich: Mitten durch Čerm- ná ging die Grenze zwischen Reichs- gebiet und Protektorat. Das histori- sche Foto zeige die Kontrollstelle inmitten des Ortes, erläutert Herr-
mann. Auch auf das Wappen von Horní Čermná geht er ein. Das Buch stehe für Bildung und die Linde sei das Symbol für Böhmen. Dass der Baum mit Wurzel dargestellt ist, solle die Entwurzelung der Emigrierten verdeutlichen. Diese wanderten übrigens nicht nur nach Sachsen und Preußen, sondern viele von ihnen nach Texas aus, und das nicht nur aus religiösen sondern später über- wiegend aus wirtschaftlichen Gründen.
Als Stadträtin und Ex-Bürgermeisterin Alena Vojtková um ein Statement gebeten wird, betont sie – wie Veronika Patočková (r.) übersetzt – die gute Zusammenarbeit mit den
Neuköllnern, die enge Verbundenheit und dass das Buch weitere Gemeinsamkeiten in der Geschichte erfahren lasse. Sie habe gehört, dass mancher Neuköllner, wenn er nach Horní Čermná reist, sage: „Ich fahre nach Hause.“ Genau das, betont sie, sage sie selber auch, wenn sie Neukölln besuche. Es sei sehr wichtig, findet sie, dass die Menschen die Geschichte der jeweils anderen erfahren und schließt mit dem Zitat: „Wer die eigene Geschichte nicht kennt, kann nicht in der Gegenwart leben.“
Die nun in deutscher Sprache erschienene Čermná-Chronik schließt Lücken im geschichtlichen Wissen und lässt viel über den Ort erfahren, aus dem vor 275 Jahren Menschen kamen, die zu „Rixdorfer Böhmen“ wurden.
Das vom Freunde Neuköllns e. V. herausgegebene Buch „700 Jahre Čermná – Geschichte eines ostböhmischen Dorfes“ hat 208 Seiten mit diversen Karten und Fotos sowie einen Anhang über das Böhmische Dorf in Neukölln. Die Chronik kostet 9 Euro und ist im Buchhandel (ISBN 978-3-00-038870-5) oder per E-Mail-Bestellung an manfred.herrmann[at] freunde-neukoellns.de erhältlich.
=kiezkieker=
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