Kunst im Knast

„Viele wissen gar nicht“, meint Martin Steffens, Leiter der 48 Stunden Neukölln, „dass es in Neukölln überhaupt ein Gefängnis gibt.“ Viel zu sehen ist von der 1901 eingeweihten Haftanstalt an der Schön- stedtstraße in der Tat nicht. Man muss schon hoch auf den Rathausturm, um einen Blick auf den Komplex werfen zu können, der als „Café Schön- stedt“  zum Modellprojekt des Jugendvollzugs wurde, nun aber bereits seit 23 Jahren in seiner eigent- lichen Funktion ausgedient hat.

Seitdem wird der Bau aus der Kaiserzeit haupt- sächlich als La- gerfläche vom Be- zirksamt genutzt, zuweilen finden auch Dreharbeiten für Kino- und Fernsehfilme und Schulungen für Voll- zugsbeamte dort statt. Mit Neuköllns größ- tem Kunst- und Kul- turfestival kommt die abgerockte Location am übernächsten Wo- chenende zu neuen Ehren: 43 Künstler präsentieren unter der Regie des Instituts für Raumforschung im Hof sowie in den Gängen, Zellen und Aufenthaltsräumen bei freiem Eintritt Objekte, Malerei, Installationen, Performances und musikalische Einlagen.

Doch schon das Gebäude an sich greift das diesjährige Festival-Motto „Luxus Neukölln“ wunderbar auf – und führt es zugleich ad absurdum. „Ein 1989 ge- planter Umbau der Gefängnistrakte in Büros wurde aus Kostengründen nicht realisiert“, schreibt Cornelia Hüge in ihrem Buch über die Karl-Marx-Straße. Stattdessen leistet sich der Bezirk nun den Luxus, seit über zwei Jahrzehnten eine Immobilie in bester Lage im Winter zu beheizen, im Sommer durchzulüften und von Januar bis Dezember mit Strom und Wasser zu versorgen.  Darauf, dass letzteres schon seit langer Zeit stetig aus dem Wasserhahn dieser sechs Quadratmeter großen Zelle tropft, deutet einiges hin. Doch es stört ja niemanden.

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Durch Zeit und Raum: Entdeckungen an der Karl-Marx-Straße

Die Verlegerin Karin Kramer weiß es ganz genau: 1120 Gramm wiege das Buch, sagt sie über das Werk, das die Autorin Cornelia Hüge liebevoll „mein dickes Kind“ nennt. Offiziell heißt es „Die Karl-Marx-Straße – Facetten eines Lebens- und Arbeits- raums“; gestern wurde es in der Galerie im Saalbau vorgestellt.

Sammlern von Neukölln-Literatur dürfte der Titel bekannt vorkommen – zu Recht, denn er erschien bereits vor neun Jahren in einer ersten Auflage, die jedoch lange vergriffen ist. Anlass für die aktualisierte Neuauflage sind aber vor allem die Veränderungen, die die Karl-Marx-Straße in den letzten Jahren erfuhr. Eine davon, die Einsetzung des City-Managements [Aktion! Karl-Marx-Straße], das mit dem Ziel Hermannplatz um 1888 (aus: "Die Karl-Marx-Straße - Facetten eines Lebens- und Arbeitsraums")angetreten ist, die Magistrale Neuköllns „zu alter Blüte und Größe“ zu bringen, spielt auch bei der Finanzierung von Hüges Buch eine nicht unwesentliche Rolle. „Sie kommt über eine Verknüpfung der Abteilung Bau- wesen des Bezirksamts mit der [Aktion! Karl-Marx-Straße] zu- stande“, erklärte der Neuköllner Baustadtrat Thomas Blesing. Die inhaltliche Klammer liegt ebenfalls auf der Hand. „Das Buch“, so Horst Evertz vom City-Management-Träger BSG, „gibt wertvolle Hinweise auf die Qualitäten der Straße und ist als Leitfaden für ihre zukünftige gestalterische Entwicklung zu Karl-Marx-Platz/Hohenzollernplatz um 1902 (aus: "Die Karl-Marx-Straße - Facetten eines Lebens- und Arbeitsraums")sehen.“ Bereits im nächsten Jahr, kündigte Evertz an, starte ein Projekt mit Fokus auf der Fassadengestaltung.

Knapp 300 Seiten mit informa- tiven Texten und Abbildungen verschiedener Epochen, die den Wandel der Karl-Marx-Straße skizzieren, umfasst Cornelia Hü- ges „dickes Kind“. Die Kunsthistorikerin nimmt die Leser mit auf einen Spaziergang, der am Hermannplatz beginnt und direkt hinter dem S-Bahn-Ring am Neuköllner Tor endet, stellt Plätze und längst der Ver- gangenheit angehörende sowie aktuelle Geschäfte vor und  lenkt die Aufmerksamkeit Karl-Marx-Straße um 1960 (aus: "Die Karl-Marx-Straße - Facetten eines Lebens- und Arbeitsraums")auf Gebäude und das, was hinter den Fassaden war und ist. „Und das verändert sich oft schnell“, erinnert sich Cornelia Hüge an den Kampf mit dem Redaktionsschluss. „Aktuell“, sagt sie, „herrscht eindeutig wieder eine bessere Stimmung auf der Karl-Marx-Straße.“ Vor allem marXity, das neue Gebäu- de an der Stelle des alten Hertie-Hauses, werde von vielen Geschäftsleuten als Symbol des Neubeginns empfunden. Dafür, dass Altes nicht in Vergessenheit gerät, sorgt Hüges Buch.

„Die Karl-Marx-Straße – Facetten eines Lebens- und Arbeitsraums“ ist in Buchhandlungen sowie direkt beim Karin-Kramer-Verlag erhältlich und kostet 18 Euro.

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