Wenn mein Nachbar seiner Frau – mal wieder – das Gesicht mit den Fäusten neu verziert und ich sie schreien und weinen höre, stehe ich seit Jahren vor derselben Frage: Was tun? Diskussionen mit anderen Nachbarn offenbarten auch deren Ratlosigkeit. Ist es richtig sich einzumischen? Und wenn ja: wie? Schön, dass es die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), gibt. Hier kümmert man sich um Frauen und Kinder, die häusliche Gewalt erleben müssen, und bietet auch Menschen, die nicht wissen wie sie helfen sollen, Rat.

Mittwoch stellten Jennifer Rotter vom BIG e. V. und der Theaterpädagoge Harald Hahn im Studio des Heimat- hafen Neukölln das jüngste Ergebnis ihrer Arbeit vor: „Keine Angst vor Hilfe“, eine mit Laiendarstellerinen in einem dreitägigen Workshop als Forumtheater erarbeitete Inszenierung. Forumtheater ist das von dem Brasilianer Augusto Boal entwickelte „Theater der Unter- drückten“, eine Theaterform, bei der die Zuschauer nicht passiv bleiben müssen, sondern aktiv mitwirken können. Denn oftmals stellen wir uns theoretisch Situationen vor und wie wir handeln würden, bewegen uns in der Praxis dann aber ganz anders. Vor allem in unbe
rechenbaren Extremsituationen. Diese Theaterform bietet eine Übungsfläche.
Die acht Darstellerinnen im Alter zwi- schen etwa 20 und etwa 50 Jahren spielten zwei Alltagssituationen häus- licher Gewalt durch. Und das Publi- kum wurde aufgefordert sich einzu- mischen, den Platz einer Darstellerin einzunehmen und so zu agieren, wie man es selbst gern im Ernstfall tun würde. Es war beeindruckend und bedrückend. Die Situationen realistisch dargestellt. Die Menschen in ihrer Ratlosigkeit oder auch Ignoranz gut getroffen.
Mir war es ein wenig zu sozialpädagogisch im Zuschauerraum. Aber die Atmosphäre war gut. Manche der Frauen und Männer im Publikum erzählten von ihren Erfah-
rungen mit Gewalt, und am Ende der Szenen zeigte Jennifer Rotter auf, was es noch für Reaktionsmöglichkeiten gibt. Denn wichtig ist natürlich der Selbst- und Opferschutz in eskalie- renden Situationen.
Harald Hahn führte souverän durch diesen außergewöhnlichen und lehr- reichen Theaterabend, für den leider keine Wiederaufführung geplant ist. Dabei müsste das Thema „Häusliche Gewalt“, von dem statistisch jede vierte Frau in Deutschland betroffen ist, dringend mehr in den Mittelpunkt gerückt werden, damit mehr Opfer und mehr, die helfen wollen, sich trauen etwas zu unternehmen.
Ich rief immer wieder die Polizei, wenn es nebenan wieder losging. Inzwischen reicht es auch schon, wenn ich darauf aufmerksam mache, dass ich Ohrenzeugin und bereit bin, die Ordnungshüter zu rufen. Da aber meine Nachbarin ihren Gatten nicht verlassen möchte, kann ich mehr leider nicht tun. Denn auch das offenbarte der Abend: Wenn ein Opfer nicht bereit ist, sich helfen zu lassen, hat man nur eine sehr geringe Handhabe. Aber hilflos ist man nicht. Ich wünsche mir mehr Zivilcourage – und das nicht nur in Neukölln.
=Anna Sinnlos=
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