Musiktheater Radioland erkundet die grenzenlose Freiheit der Meere

Umbruch, Aufbruch, Rebellion: Die junge Generation der 1960er Jahre forderte ihre Nachkriegsgesellschaften in vieler Hinsicht heraus, sodass sie oft kräftig durcheinander gewirbelt wurden. Die damals in den westlichen Industrienationen aufbegehrende Generation stellte eigentlich alles zur Disposition, selbst die Sterne schienen zum Greifen nah und ein neues Zeitalter wurde angekündigt. Eine beachtenswerte Randnotiz aus der Musikgeschichte dieses bewegten Jahrzehnts bringt die Neuköllner Oper mit ihrer neuesten Produktion Radioland auf die Bühne. Es geht um die meistens wahre, aber immer unglaubliche Geschichte des Fürstentums Sealand, die Regisseur und Songtexter Fabian Gerhardt zusammen mit Texter Lars Werner in eine bühnenreife Fassung brachte. Musikalisch haben Christopher Verworner, Leiter des Verworner-Krause-Kammerorchesters, und Komponistin Misha Cvijovic sowohl opernhafte, klassische Elemente als auch Teile zeitgenössischer elektronischer Musik miteinander verbunden. Rock‘n‘Roll, Psychedelic Rock und die Hippie-Musik der Sechziger Jahre werden in den Kompositionen frei nachempfunden, anstatt die Originale der Zeit nur nachzuspielen oder zu covern. In der Band, die mit Drums, E-Bass, E-Gitarre und Klavier sowie mit Synthesizer, Violoncello, Kontrabass und Schlagwerk musikalisch breit aufgestellt ist, spielen Verworner und Cvijovic neben den anderen Musikerinnen und Musikern hinter der Bühne.

Piratensender ohne offizielle Sendeerlaubnis schossen Mitte der Sechzigerjahre im Ärmelkanal vor der britischen Küste wie Pilze aus dem Boden. Denn die staatliche Rundfunkanstalt BBC weigerte sich zunächst beharrlich, die Musik der Beatles, der Rolling Stones und anderer progressiver Bands für ihre jungen Hörerinnen und Hörer zu spielen. Einer der bekanntesten Musikpiraten war Patrick Roy Bates, ehemaliger Offizier der britischen Armee. Er kaperte die verlassene Flakplattform HM Fort Roughs, um dort zunächst mit seiner Ehefrau Joan sowie mit Tochter Penny und Sohn Michael einen 24/7-Piratensender für übergangene Hits einzurichten. 1967 proklamierte Bates auf der rund 4.000 Quadratmeter kleinen Plattform -damals in internationalen Gewässern, rund 10 Kilometer von der britischen Küste entfernt- das „Fürstentum Sealand“. Seine Mikronation, die bis heute existiert, der aber jede völkerrechtliche Anerkennung fehlt, stellte er unter das Motto: „E mare Libertas“ („Freiheit aus dem Meer“). Einige vermeintliche Geschäftsleute überfielen 1978 die Plattform und sperrten Sohn Michael in einer Vorratskammer ein. Roy Bates und der Rest seiner Familie eroberten mit einem gewagten Hubschrauber-Manöver jedoch Sealand erfolgreich zurück. Ein Jahr später wurde einer der Eindringlinge des „Hochverrats“ bezichtigt und längere Zeit von Familie Bates auf der Plattform festgehalten.

Roy Bates (Stefanie Dietrich) (l.) und Gattin Joan (Meik van Severen) (r.) -als cross-gender besetztes Ehepaar- sowie Tochter Penny (Mathilda Switala) (M.) und Sohn Michael (Armin Wahedi Yeganeh) (M.) geben Vordergründig das Bild einer intakten Familie ab. Discjockeys in kleinen Booten steuern regelmäßig ihre besetzte Plattform an, um für kleines Geld und unter miesesten Arbeitsbedingungen am Rand der Selbstausbeutung für ihr Musikpublikum auf dem Festland die neuesten Vinylscheiben aufzulegen. Die DJs leiden an Vitaminmangel, schlechter Luft in den Räumen und wenig Platz hinter ihren Plattentellern, während Familie Bates die Werbeeinnahmen ihres populären Senders einkassiert. Doch wem es nicht passt, der kann ja gehen, drohen die Bates und loben die schier grenzenlose Freiheit bis zum weiten Horizont. Willkür pur. Penny leidet am Inselkoller. Da hilft es nicht, dass sie im Meer mit dem Universum verbunden ist und sogar einen Delfin mit ihren Lauten rufen kann, der gemeinsam mit Walross, Robbe und Fisch zum Meeresballett an die Plattform kommt. Kein Mensch ist bekanntlich eine Insel und Penny will nicht immer nur mit der Familie, sonden auch einmal mit anderen Leuten, zusammen sein

Als die BBC unerwartet auf Rock- und Pop-Musik umsteigt, um die Wünsche ihrer Hörerinnen und Hörer endlich zu erfüllen, nimmt die Geschichte eine ernste Wendung. Die Werbeeinnahmen brechen auf Radioland weg und die Plattform verliert scharenweise ihre besten Plattenunterhalter an die gut zahlende „Auntie Beep“. Roy Bates gründet deshalb das Fürstentum auf zwei Pfählen, um seine fixe Idee der Freiheit in einen real existierenden Staat zu verwandeln, der als Steueroase und Glücksspielparadies bares Geld generieren kann. Er gerät dabei an den betrügerischen Investor Herman Z German (Owen Read) (l.), der nach einem Putsch mit den Worten: „I am the leader and this is my Liederabend“, die Macht auf Radioland übernimmt. Doch Haudegen Bates gibt so schnell nicht auf. Er erobert die Macht zurück und macht German in seinem Mikroimperium einen ganz und gar nicht rechtsstaatlichen Prozess. Was kann es Schöneres für einen Oligarchen geben als die Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung eines eigenen, souveränen Staates?

Radioland

Weitere Vorstellungen:
Do 02.02., Fr 03.02., Sa 04.02., jeweils 20 Uhr
So 05.02., 18 Uhr.
Do 09.02., Fr 10.02., Sa 11.02., jeweils 20 Uhr
So 12.02., 18 Uhr-
Mi 15.02., Do. 16.02., Sa 18.02., jeweils 20 Uhr
So 19.02., 18 Uhr-
Do 23.02., Fr 24.02., Sa 25.02., jeweils 20 Uhr
So 26.02., 18 Uhr.

Vorstellungen mit englischen Übertiteln am 2./4./15./23. Februar
Tickets https://neukoellner-oper-webshop.tkt-datacenter.net/de/tickets/radioland

Neuköllner Oper
Karl-Marx-Straße 131
12043 Berlin

=Christian Kölling=

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