Die Rauchschwaden der Silvesternacht sind verflogen. In meiner meist beschaulichen Neuköllner Wohnstraße werden heute nur noch ganz vereinzelt Böller gezündet. Zum Jahreswechsel 1999 / 2000 durchschlug eine Silvesterrakete das Doppelfenster meines Arbeitszimmers, versengte die Gardine und landete im Bücherregal, wo sie einen hässlichen Brandfleck auf einem Buch als dauerhafte Erinnerung hinterließ. Drei Jahre später explodierte kurz nach Mitternacht direkt vor meinem Küchenfenster ein Böller, so dass eine Scheibe barst. In der zurückliegenden Silvesternacht prallte gegen 22 Uhr der hölzerne Leitstab einer Feuerwerksrakete gegen meine Balkontür, ohne Schaden anzurichten. Glück gehabt! „Im gesamten Stadtgebiet kam es zu zahlreichen Bränden -überwiegend durch pyrotechnische Erzeugnisse verursacht“, meldete dagegen die Polizei in ihrer diesjährigen Silvesterbilanz von weniger glücklichen Orten. Der Bezirk Neukölln geriet wegen Ausschreitungen am nordwestlichen und am südöstlichen Ende der Sonnenallee zudem in die Negativ-Schlagzeilen. Grund genug, um sich über die Bedeutung des Wortes „Glück“ und über das in der Stadt vorherrschende Lebensgefühl einmal ganz grundsätzlich Gedanken zu machen.
Die deutsche Sprache unterscheidet nicht zwischen dem kurzfristigen, zufälligen Glück, das das Gegenteil von Pech ist, und dem andauernden Glück, das langanhaltende Freude oder Zufriedenheit bedeutet. Dagegen machen beispielsweise Englisch und Französisch zwischen „luck“ bzw. „chance“ und „happiness“ bzw. „bonheur“ einen feinen Unterschied. Überhaupt wird hierzulande der Begriff „Glück“ oft nur oberflächlich gebraucht. Im weltweiten Glücksvergleich schneidet Deutschland bestenfalls mittelmäßig ab . Wer sich mit der Materie gewissenhaft auseinandersetzen will, wird schnell als weltfremder Romantiker abgetan. Eine ernsthafte Beschäftigung mit den Begriffen „Glück“ und „Nachhaltigkeit“ ist in der Regel gleichermaßen verpönt. Trotzdem darf „Glück“ neben „Gesundheit und Erfolg“ auf keiner Grußkarte mit guten Neujahrswünschen fehlen. Welche Bedeutung hat also das Wort? In den besinnlichen Tagen zwischen Weihnachten und Silvester stöberte ich in der Neuköllner Stadtbibliothek, um in den unterschiedlichsten Büchern nach einer Antwort zu suchen.
Die Deutsche Post stellte ihren „Glücksatlas“ im Jahr 2021 mit der elften Ausgabe ein. Nun gibt die SKL-Lotterie in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg einen deutschlandweiten „Glücksatlas“ heraus. „Die Lebenszufriedenheit Berlins war und ist unterdurchschnittlich. Im Bundesländer-Ranking liegt Berlin seit Beginn der Messungen im unteren Drittel“, attestierte das Wohlfühlbarometer und folgerte, dass die Stadt „unzufrieden, aber sexy“ sei. Flüchten Ihre Gedanken, liebe Leserin und Leser, beim Wort Glück auch in die Ferne? Verbinden Sie etwa die Thematik unwillkürlich mit dem buddhistischen Mönch Matthieu Ricard oder mit dem Dalai Lama? Meik Wiking, der für das Happiness Research Institute arbeitet, präsentiert in seinem Buch „Hygge: Ein Lebensgefühl, das einfach glücklich macht“ (Signatur Erd 473 Wiki) eine näher liegende Alternative aus dem christlich-abendländisch geprägten Dänemark. Im benachbarten Schleswig-Holstein leben die statistisch betrachtet glücklichsten Menschen in Deutschland, was vielleicht ein Indiz dafür ist, dass Lebenszufriedenheit auch über Grenzen hinweg ansteckend wirkt.
In der Romanabteilung der Stadtbücherei, wo es zum Sujet wohl die meisten Bücher gibt, wurde ich während meiner kurzen Suche nach dem Glück zuerst fündig. Spontan blieb ich beim Roman „Glück“ (Signatur Roman Kisc) hängen, der unter dem Pseudonym Robert Kisch veröffentlicht wurde. Hinter dem Decknamen verbirgt sich ein früherer Topjournalist, der in der Wirtschaftskrise seinen Job verlor und nach der Kündigung tief fiel. Er arbeitete als Möbelverkäufer auf Provisionsbasis und schrieb über diese randständige Existenz im Dienstleistungsprekariat den Roman „Möbelhaus“. Anschließend gab sich Kisch als der Kölner Journalist Guido Eckert zu erkennen. Im zweiten Tatsachenroman „Glück“, der 2016 nach seiner Freistellung im Möbelhaus erschien, suchte der Ich-Erzähler Kisch das große Lebensglück. Er reiste durch das Land, um interessante Menschen zu interviewen, die zwar keine typischen Aussteiger sind, aber trotzdem ihr Leben nur danach ausrichten, was wirklich wichtig für sie ist. Auf seinen Tagesreisen traf Kisch einen Physiker, eine Zen-Lehrerin und einen ehemaligen Kommunisten. Erstaunt glaubt der Romanautor, eine große Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft entdeckt zu haben, und stellt in seiner äußerst lesenswerten Recherche zudem die Lebensgeschichten eines Hirnforschers, eines Unternehmensberaters, einer Hospiz-Mitarbeiterin sowie eines ehemaligen Flüchtlings vor.
Auf eine Reise durch ein unerwartet glückliches Land hat sich auch die Journalistin Sabine Eichhorst begeben, deren Buch „German Glück“ (Signatur Gesch 459 Eich) ich später in den Regalreihen der Stadtbücherei fand. Zwischen Kiel und München, Duisburg und Leipzig interviewte sie in bewährter Art und Weise insgesamt 19 Menschen. Sie begegnete dabei u. a. einem Pastor im Rollstuhl, einer Frau, deren Firma in Konkurs ging, einem beruflich äußerst erfolgreichen Metzger sowie einer Ex-Eremitin. „Was ist Glück?“ (Signatur Phil 221 Hayb) fragt Daniel M. Haybron und gibt in seinem Buch, das erstmals 2013 auf Englisch erschien, eine handliche, rund 150 Seiten starke Orientierung. „Die einfachste notwendige Voraussetzung für Glück, ist ein Mindestmaß an materieller Sicherheit“, stellt Haybron, der Professor für Philosophie an der Saint Louis University ist, unmissverständlich klar. So hätte zum Beispiel sowohl in Kalifornien als auch in Kalkutta die Gruppe der Obdachlosen nur eine unterdurchschnittliche Lebenszufriedenheit. Glück im doppelten Sinne eines Bewusstseinszustands und eines gelungenen Lebens hänge allerdings nicht allein vom materiellen Wohlstand ab. „Es steigen zumindest die Chancen, ein zufriedenes und glückliches Leben zu führen, wenn man sich mit sinnerfüllten Tätigkeiten beschäftigt, aber es nicht übertreibt“, rät Haybron. Einen besonderen Platz in der umfangreichen Ratgeberliteratur nimmt „Die Kunst des guten Lebens“ (Signatur Psy 840 Dobe) von Rolf Dobelli ein. Der Bestsellerautor stellt in 52 kurzen Kapiteln überraschende Wege zum Glück vor. Er bezieht sich dabei auf die Ergebnisse der psychologischen Forschung aus den vergangenen 40 Jahren, macht viele Anleihen bei Zenon, Seneca, Aurel sowie bei anderen Philosophen des Stoizismus und übernimmt viele Ratschläge aus der Investment-Literatur. „The pursuit of happiness“, also das Streben nach Glück, ist bereits in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 verankert. Das rund 800.000 Einwohner zählende Königreich Bhutan im Himalaya hat heute ein Grundrecht auf Glück in seiner Verfassung festgeschrieben.
Was aber folgt aus meinen Recherchen für ein glückliches neues Jahr und insbesondere einen friedlichen und fröhlichen Jahreswechsel 2023 / 2024 in Neukölln? Ein glückliches und zufriedenes Leben ist möglich, wird in Berlin möglicherweise aber nicht so sehr wie anderswo geschätzt. Es bleibt offen, ob die Berlinerinnen und Berliner -unzufrieden und sexy wie sie nun einmal sind- das Glück nicht für erreichbar oder nicht für erstrebenswert halten. Fehlt am Ende -nicht nur den abgehängten Jugendlichen Berlins- gar der Mut zum Glück?! Offenkundig ist jedoch, dass Enttäuschung, Unzufriedenheit, Wut, Verbitterung und viele andere Formen der Frustration hier generationsübergreifend wie selbstverständlich zum Lebensgefühl gehören. „Unverständlicherweise wurden auch in der zurückliegenden Silvesternacht wieder Einsatzkräfte und Fahrzeuge der Berliner Feuerwehr angegriffen“, musste ich bereits am 3. Januar 2022 im Facetten-Magazin notieren: „Schwerster Zwischenfall in Neukölln: Feuerwehrleute, die auf der Sonnenallee in Höhe High-Deck-Siedlung einen brennenden Müllcontainer löschen wollten, wurden mit Böllern attackiert. Unweit davon beschossen und bewarfen Unbekannte gegen 0.30 Uhr einen Funkwagen in der Peter-Anders-Straße mit Pyrotechnik, sodass
die Frontscheibe des Polizeifahrzeugs auf der Beifahrerseite stark beschädigt wurde“, schrieb ich damals nach einer vergleichsweise ruhigen Silvesternacht. Ein Jahr zuvor – im Corona-Winter 2020 / 2021- brannte durch den unsachgemäßen Gebrauch von Pyrotechnik ein Supermarkt an der Marienfelder Chaussee in Buckow vollständig aus. Eine „neue Qualität“ der Zerstörungswut, die zum diesjährigen Jahreswechsel beklagt wurde, war in Neukölln sicherlich bereits am Neujahrstag 2018 erreicht, nachdem die Berliner Feuerwehr zu einem ihrer größten Einsätze ausrücken musste, um einen Brand im Musikhaus Bading zu löschen. „Gerüchte, denen zufolge die Feuerwehrleute beim Löscheinsatz ‚massiv beschossen‘ worden seien, erwiesen sich allerdings als haltlos“, hielt ich damals fest.
Nur ein allgemeines Böllerverbot wäre meiner Meinung nach ein wirklich effektiver Beitrag für mehr Sicherheit in Neukölln und in der gesamten Stadt. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin hat eine entsprechende Petition an Innensenatorin Iris Spranger und an Bundesinnenministerin Nancy Faeser gestartet, die 50.000 Unterzeichnende benötigt. Ein ähnlicher Appell hat auf der online Plattform Campact bereits über 378.000 Unterschriften erhalten. Beiden Initiativen wünsche ich viel Glück und bin in jedem Fall auf die Diskussionen über die zurückliegende Silvesternacht am 2. Januar 2024 gespannt.
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Lieber Christian, danke für diesen wirklich schönen Artikel! Grade passend für den heutigen grauen Sonntagmorgen. Ich wünsche dir viel Glück in diesem Jahr und freue mich auf die zahlreichen Artikel, die uns durch dieses Neuköllner Jahr begleiten werden. LG Beate Bruker
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Lieber Christian,
ein glückliches und zufriedenes Jahr wünsche ich dir. Dieser Text ist anregend, macht Spaß zu lesen und neugierig auf deine folgenden Artikel des beginnenden Jahres. Gruß Marco Guhl
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Dieser heitere, optimistisch stimmende Artikel kann nur von einem glücklichen Menschen stammen, der weiß, warum er diesen Beruf gewählt und noch immer Freude daran hat. Vielen Dank für beste information und Unterhaltung, lieber Herr Kölling!
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