„Wie sieht das E-Scooter-Modellprojekt des Mobilitätsanbieters Bolt am S-Bahnhof Köllnische Heide konkret aus und welche Vereinbarungen wurden für die 400 E-Scooter und E-Fahrräder getroffen?“ Mit dieser kurzen mündlichen Anfrage (Drucksache 0381 / XXI) brachte die Bezirksverordnete Sabine Güldner (CDU) auf der letzten BVV-Sitzung vor der Sommerpause am 22. Juni das Bezirksamt Neukölln offenkundig in Erklärungsnöte. „Ich bin sehr froh, dass wir dieses Modellprojekt in Neukölln erfolgreich durchführen können“, antwortete Bürgermeister Martin Hikel der Verordneten Güldner im Namen des Bezirksamtes. Mit Zahlen, Daten oder Fakten untermauerte der Bezirksbürgermeister seine Freude über das angeblich „erfolgreiche Modellprojekt“ allerdings nicht. Stattdessen wies Hikel darauf hin, dass E-Scooter und Leihräder innerhalb des S-Bahn-Ringes oft mißbräuchlich auf Bürgersteigen benutzt und verkehrsgefährdend abgestellt würden. „Wir kennen diese Bilder hinlänglich“, so Hikel. Die Leihfahrzeuge würden in der Innenstadt häufig von Touristen oder Jugendlichen genutzt, ohne gleichzeitig das Auto zu substituieren und damit den Verkehr zu entlasten, analysierte Hikel die Lage in der Innenstadt.
„Die bisherige Praxis des Verleihs bedeutet aber nicht, dass E-Scooter keinen wichtigen Beitrag für die Verkehrswende darstellen können – gerade wenn sie für die ‚letzte Meile‘ und damit in Kombination mit dem ÖPNV genutzt werden“, argumentierte Hikel, um die Sinnhaftigkeit des Feldversuches im Neuköllner Süden zu begründen. Das Bezirksamt setze sich für Sharing-Angebote außerhalb des S-Bahn-Rings ein, wo der ÖPNV leider noch zu häufig lückenhaft sei. „Gemeinsam mit dem Mobilitätsdienstleister Bolt und dem Unternehmensnetzwerk Neukölln Südring hat das Bezirksamt ein Modellprojekt ins Leben gerufen, um einen konkreten Mehrwert für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Neukölln zu schaffen und gleichzeitig einen Beitrag für die Verkehrswende zu schaffen“, sagte Hikel der Kommunalpolitikerin Güldner, die mit ihrer Anfrage auf ein möglicherweise drohendes E-Scooter Chaos am S-Bahnhof Köllnische Heide aufmerksam machen wollte.
Bereits am 13. Juni hatten sich Johannes Beutel (r.), Bolt-Regionalmanager Ostdeutschland, Christian Mehner, Leiter der Geschäftsstelle des Unternehmensnetzwerks Neukölln Südring e.V., sowie Bürgermeister Hikel (l.) am frühen Morgen vor dem S-Bahnhof Köllnische Heide zur öffentlichen Projektvorstellung getroffen. Tatsächlich ist die Grundidee des Modellprojektes nicht abwegig. „Sharing-Angebote können – sinnvoll gesteuert – ein wichtiger Baustein für die Verkehrswende sein“, heißt es beispielsweise im Abschnitt „Mobilität“ des rot-grün-roten Koalitionsvertrags auf Seite 63. Auch das Umweltbundesamt (UBA) rät in einer ausführlichen Stellungnahme aus dem Herbst 2021: „Verleiher sollten E-Scooter statt in Innenstädten besser in den Außenbezirken aufstellen. Hier kann es durchaus sinnvoll sein, die möglicherweise zu lange Strecke zur Bahn schnell mit dem E-Scooter anstatt mit dem Auto zu
überbrücken.“ Die Berliner Koalitionsvereinbarung betont aber die Notwendigkeit einer „sinnvollen Steuerung“ und das Umweltbundesamt drängt u. a. darauf, dass für die erfolgreiche Einführung von Leihfahrzeugen ein wirksames Parkraummanagement inklusiver ausgewiesener Abstellbereiche erforderlich sei. „Kommunen können auch durch Vereinbarungen mit Verleihern oder Auflagen festlegen, dass E-Scooter stationsgebunden dort zur Verfügung stehen, wo sie nachhaltige Fortbewegung unterstützen“, betonte das UBA noch im vergangenen Herbst.
Die Stadt Bonn, die mit knapp 332.000 Einwohnern nur unwesentlich größer ist als der Bezirk Neukölln, der gut 327.000 Bewohner zählt, hat beispielsweise ein Betriebsgebiet inklusive Sperrzonen festgelegt, in dem die Leihroller nicht fahren dürfen. In Bonn wurden auch Parkverbotszonen definiert, in denen die Fahrzeugmiete nicht beendet werden kann, sodass in den Gebieten keine Leihfahrzeuge abgestellt werden können. Beim Neuköllner Modellprojekt wurden hingegen anscheinend zwischen Bezirk, Betreiber und Betrieben keine verbindlichen Regelungen vereinbart, wie ein E-Roller Chaos, das aus der Innenstadt hinlänglich bekannt ist, im Süden des Bezirks verhindert werden könnte. Das wurde jedenfalls beim Ortstermin Mitte Juni bereits deutlich und wird durch die vage Antwort auf die Anfrage der Bezirksverordneten Güldner nun indirekt bestätigt.
Ganz im Gegenteil kündigte das Bezirksamt jetzt in einer Pressemitteilung vom 30. Juni die Ausweitung des E-Scooter-Versuchs im Neuköllner Süden an. Neuköllner Unternehmen würden weiterhin von der Firma Bolt beraten, wie sie die Angebote der Verkehrswende noch besser nutzen könnten, hieß es ohne auf Einzelheiten konkret einzugehen. „Wenn die Mitarbeitenden für die ‚letzte Meile‘ zum Arbeitsplatz einen E-Scooter leihen können, dann tun sie es auch – und steigen auf umweltfreundliche Lösungen um. Das Modellprojekt hat gezeigt, dass bei richtigem Einsatz die Verkehrswende gelingen kann“, wurde Hikel in der Pressemitteilung zitiert. Mit keinem Wort erwähnte man allerdings in der Mitteilung, mit welchen Methoden die Testphase evaluiert wurde: Kein Wort dazu, wie viele Mitarbeitende in den Neuköllner Industriegebieten während des Versuchs tatsächlich vom Auto auf den ÖPNV bzw. den Leihroller oder das Leihrad umstiegen sind. Keine aussagefähige Zahlenangabe darüber, wie viel Kilometer Arbeitsweg vom motorisierten Individualverkehr wirklich auf den öffentlichen Personennahverkehr verlagert werden konnten. Kein Konzept, wie verkehrsbehinderndes Abstellen der Roller in Aussenbezirken verhindert werden kann. Nicht zuletzt bleibt offen, wie viele Kraftfahrzeug-Kilometer entstehen und die Öko-Bilanz belasten, wenn die E-Scooter in den Fahrzeugen der „Juicer“ zum Aufladen, zum Reparieren oder zu neuen Standorten transportiert werden.
Skepsis gegenüber dem vermeintlichen Erfolg des Modellprojektes ist bedauerlicherweise also angebracht. Bereits am Ende der vergangenen Sitzung des BVV-Ausschusses für Verkehr und Tiefbau vom 29. Juni hatte ein Bezirksverordneter unter dem Tagesordnungspunkt „Verschiedenes“ darauf hingewiesen, dass umgestürzte Leihroller seit einiger Zeit regelmäßig im Neudecker Weg in Rudow den Fuß- und Radverkehr beeinträchtigen würden. Ich machte deshalb am vergangenen Freitagnachmittag eine halbstündige Stippvisite am U-Bahnhof Rudow, um mir die Situation anzusehen. Auf beiden Seiten der Straße Alt-Rudow behinderten
abgestellte E-Scooter der Firma Bolt den Fußverkehr auf den Gehwegen. Vor der Filiale einer Warenhauskette standen gleich zwei Leihroller mitten im Weg. Auf der gegenüberliegende Seite der Rudower Flaniermeile blockierte an der Kreuzung Köpenicker Straße ein grüner E-Roller den Fußverkehr. Nicht weit davon entfernt lag am Rudower Dorfteich ein Bolt-Roller im Gebüsch. Gegen halb fünf flitzte vor dem Radgeschäft in Alt-Rudow auf dem Gehweg ein grüner Leihroller an mir vorbei, dessen jugendlicher Nutzer wahrscheinlich nicht auf dem Weg ins Gewerbegebiet war.
„Wir werden die Flotte im neuen Geschäftsgebiet weiter erhöhen und dauerhaft etablieren“, erklärte Balthasar Scheder, Country Manager von Bolt, in der Pressemitteilung des Bezirksamtes vom 30. Juni. Bolt sei „mit dem Verlauf des Modellprojekts sehr zufrieden“. Worauf müssen sich die Neuköllnerinnen und Neuköllner außerhalb des S-Bahn-Ringes jetzt also einstellen? Bei einem Besuch in Buckow sah ich Samstagnachmittag einen Bolt-Roller der unmittelbar neben der Behinderten- bzw. Seniorenfreizeitstätte Alt-Buckow 16 – 18 abgestellt war. Zwei Einrichtungen, die sowohl für mobilitätseingeschränkten Menschen als auch für blinde und sehbehinderte Personen zugänglich sein müssen. Der Roller stand dicht an der Gehwegbegrenzung, sodass der Eindruck entstehen konnte, dieses Gefährt behindere den Fußverkehr nicht. Tatsächlich ist das aber ein Irrtum, wie der Allgemeine Blinden und Sehbehinderten Verein Berlin (ABSV) klarstellt: Abgestellte Fahrzeuge an der Hauswand bzw. an der Gehwegbegrenzung nennt der ABSV ein Unding, denn an Wänden und Begrenzungen orientierten sich blinde und sehbehinderte Menschen.
„Ich bleibe am Thema dran“, versprach die Verordnete Sabine Güldner. Hoffentlich ist die Kommunalpolitikerin mit ihren Bemühungen erfolgreich und vielleicht bekommt sie sogar nach den Ferien mehr Unterstützung. Schließlich ging erst im Spätherbst 2021 ein Neuköllner Pilotprojekt gegen Fahrräder und E-Scooter auf Gehwegen wie das sprichwörtliche Hornberger Schießen aus.
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