Und was hat ein uraltes Papier damit zu tun?
„Willst Du Neukölln oben sehen, musst Du die Tabelle drehen.“ So postete ich in den nicht immer sozialen Netzwerken, nachdem die Geschäftsführerin des Jobcenters Neukölln im Sozialausschuss der Neuköllner BVV berichtet hatte, dass Neukölln mit 24,6% die bundesweit höchste Hartz-IV-Quote aufweist. Nicht gerade ein neuer Befund. Seit Jahren, inzwischen sogar Jahrzehnten liegt Neukölln hier ganz oben – bzw. unten. Die Reaktion auf meinen Post kam zugleich in der Erwähnung des „Lambsdorff-Papiers“.
Zur Erläuterung: Graf Lambsdorff (FDP) war einmal Wirtschaftsminister einer SPD-FDP-Koalition. Sein Papier war als Blaupause gedacht für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel von einer eher keynesianisch geprägten Nachfrage- zu einer als „neoliberal“ denunzierten Angebotspolitik. Die Erwähnung des Lambsdorff-Papiers impliziert den Vorwurf, schuld an der hohen Armuts- und Hartz-IV-Quote in Neukölln sei die böse „neoliberale“ FDP, die in den letzten Jahrzehnten jedoch weder im Bezirksamt noch im Berliner Senat mitgestalten konnte. Vor 40 Jahren -zu dieser Zeit waren die Grünen noch eine pazifistische Partei und die SPD gab noch ein soziales Aufstiegsversprechen ab- besiegelte das Lambsdorff-Papier das Ende der SPD-FDP-Koalition unter Schmidt und Genscher und den Beginn der Regierung Genscher-Kohl, die zur deutschen und europäischen Einigung führte. Das Lambsdorff-Papier verschwand mit dem Regierungswechsel tief in irgendeiner Schublade, die bis zum Regierungswechsel 1998 nicht mehr geöffnet wurde.
Vielleicht hatte die rot-grüne Regierung Schröder-Fischer die Schublade geöffnet, in der das Lambsdorff-Papier vor sich hin staubte, als sie längst fällige Reformen anging. Mit der Agenda 2010 wurden zumindest einige der damaligen Lambsdorff-Forderungen aufgegriffen, wie z. B. eine arbeitsmarktpolitische Deregulierung oder die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Diese Reformen waren notwendig und haben letztendlich auch dazu geführt, die Zahl der Arbeitslosen zu senken und die Wirtschaft zu stabilisieren. Viele handwerkliche Fehler insbesondere bei der Umsetzung dieser Reformen auf Landesebene durch den rot-roten Senat in Berlin haben diese Reformen jedoch in ein schlechtes Licht gestellt. „Hartz-IV“, offiziell Arbeitslosengeld II, macht nicht arm, sondern hat die Funktion einer Grundsicherung. Sie ist nicht gedacht als lebenslanges Bürgergeld oder Grundeinkommen. Egal ob mit oder ohne Bedingungen. Armut wird nachhaltig bekämpft, indem die Menschen die Möglichkeit haben, sich mit Arbeit, und ggf. ergänzenden Sozialleistungen wie Kinderzuschlag oder Wohngeld, ihren und den Unterhalt ihrer Familie zu bestreiten.
Hier kommen wir zur Frage, was die Bezirkspolitik als eine Stufe der Berliner Landes- und Kommunalpolitik gegen Armut bzw. prekäre Lebenslagen tun kann. Dass es besonders oft Menschen (und deren Angehörige) mit keinem oder einem geringen Bildungsabschluss oder mit Migrationshintergrund sind, die trotz Fachkräftemangels arbeitslos oder im langjährigen Bezug von „Hartz-IV“ leben, ist seit vielen Jahren auch im Bezirksamt Neukölln bekannt. Trotzdem haben sich der Zustand der Neuköllner Schulen und die Zahl derjenigen, die diese Schulen ohne Abschluss verlassen, nicht signifikant geändert. Der Bezirk macht sich hier regelmäßig einen schlanken Fuß und verweist im Zweifel auf die Bundes- und Landesebene, die verantwortlich seien. Mit dieser kombinierten Schwarzer-Peter-Vogel-Strauß-Politik höhlt das Bezirksamt jedoch seine eigene und die gesamte Legitimation der Bezirkspolitik aus. Hier wäre es hilfreich, wenn wir endlich zum politischen Bezirksamt kämen und es eine klare Aufgabenteilung zwischen Landes- und Bezirksebene gäbe. Hinzu kommen falsche Prioritäten der rot-grünen Zählgemeinschaft: Eine Verkehrspolitik, die Neukölln zum regelmäßigen Bestandteil der Stauwarnungen macht; die Unfähigkeit oder das Desinteresse, den Wohnungsbau zu fördern, sowie eine nur rudimentär digitalisierte Verwaltung, die Menschen nicht nur im übertragenen Sinne im Regen stehen lässt, wenn sie eine bezirkliche Dienstleistung benötigen, werden potenzielle Investoren nicht von unserem Bezirk überzeugen. Stattdessen werden Unternehmen, die Standortentscheidungen treffen, sich weiterhin regelmäßig gegen unseren Bezirk entscheiden und keine Arbeitsplätze schaffen bzw. existierende abbauen.
Anstatt die Tabelle zu drehen, ist es nachhaltiger, wenn sich das Bezirksamt seiner Verantwortung stellt, den Abbau prekärer Lebenslagen zu seiner Priorität erklärt und seine Politik ganzheitlich danach ausrichtet.
Neukölln ist eine „coole Nachbarschaft“, urteilte erst im Herbst 2021 wieder das Magazin Time Out und setzte den Bezirk auf Platz 11 seines weltweiten Städte-Rankings. „Die SGB-II-Quote beträgt im Bezirk 24,6 Prozent. Neukölln ist damit bundesweit das Schlusslicht“, urteilte dagegen erst am 11. Mai die Geschäftsführerin des Jobcenters Neukölln, Dr. Dagmar Brendel, im Sozial-Ausschuss des Bezirkes, der für seinen hohen Anteil armer Menschen spätestens seit dem Spiegel-Artikel Endstation Neukölln von 1997 bekannt ist. Top oder Flop? Auf einen Gastbeitrag des Neuköllner Bundestagsabgeordneten Hakan Demir (SPD) antwortet heute der Neuköllner FDP-Bezirksverordnete Roland Leppek, der Vorsitzender seiner Fraktion und ordentliches Mitglied im Sozialausschuss der BVV-Neukölln ist. Die Reihe der Gastbeiträge zur Sozialpolitik soll in loser Reihenfolge fortgesetzt werden.
=Redaktion FACETTEN-Magazin Neukölln=
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