„Fortune favors the brave“ verkündete ein haushohes Werbeplakat, das im vergangenen Winter vor dem ehemaligen C&A-Haus an der Karl-Marx-/Anzengruberstraße hing, wo sich seit längerer Zeit einige Obdachlose dicht am fest verschlossenen Eingang eingerichtet hatten. An der zentral gelegenen Ecke zwischen Rathaus Neukölln und Alfred-Scholz-Platz müsse sich unbedingt etwas ändern, forderte damals Falko Liecke. „Wir haben hier über viele, viele Jahre einen wirklichen Schandfleck“, beklagte der erfahrene Kommunalpolitiker und kündigte an: „Wir planen hier eine wirtschaftliche Nutzung.“ Eine entsprechende Initiative sei mit Stadtentwicklungsstadtrat Jochen Biedermann abgestimmt. Anfang Dezember ließ Liecke, der gerade frisch in sein neues Amt als Sozialstadtrat gekommen war, die provisorische, aber regenfeste Lagerstatt der letztverbliebenen obdachlosen Person entfernen. Doch anders als das Zitat des Plakats am Werbegerüst nahelegte, begünstigte das Glück in diesem Fall weder den Tapferen oder Mutigen, noch den Tüchtigen. Die obdachlose Person lehnte nach Lieckes Auskunft ein Hilfsangebot ab, werde jedoch weiterhin von der Straßensozialarbeit betreut. Und obwohl die Platte geräumt und der Eingang ordentlich eingezäunt wurde, bleibt die Ecke weiterhin unansehnlich. Jetzt bedeckt reichlich Taubendreck die Rohre des Gerüsts sowie den Boden. Auf dem Bürgersteig verstellt
das Werbegerüst immer noch den Weg und bleibt für alle Passanten – nicht nur mit Kinderwagen oder Rollstuhl – ein Ärgernis.
Hannes Rehfeldt, Sprecher des Sozialstadtrates, teilte mir kürzlich mit, dass Liecke alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten genutzt habe, um die Situation vor dem ehemaligen C&A-Haus zu verbessern und erinnerte an die Zuständigkeit von Stadtrat Jochen Biedermann. Bezirksstadträtin Sahra Nagel, die ich wegen der andauernden Behinderung des Fußgängerverkehrs angeschrieben hatte, antwortete, dass das Ordnungsamt nicht involviert sei. „Antragsbehörde für das Gerüst wie auch für die Werbung ist das Straßen- und Grünflächenamt“, schrieb mir schließlich Christopher Dathe. „Gerüste dürfen nicht nur für die Nutzung als Werbefläche aufgestellt werden“, fügte der Sprecher des Bezirksstadtrats Biedermann hinzu und versicherte: „Das Bezirksamt wirkt aktuell auf die Entfernung der Werbung hin. Die temporär erteilte Genehmigung ist ausgelaufen.“
Über die möglichen Nutzungspläne des Eigentümers für das fünfstöckige Gebäude, das 1953 als Kaufhaus erbaut und 2012 geschlossen wurde, ist dagegen nach wie vor nichts bekannt. „Ganz aktuell hat es ein Gespräch zwischen Herrn Biedermann und dem Eigentümer gegeben, um den Weg hin zu neuen Planungen abzustimmen“, teilte mir Dathe am Freitagnachmittag mit. „Ohne erhebliche Investitionen ist das Objekt kaum sinnvoll dauerhaft nutzbar. Konkreteres lässt sich von Bezirksseite derzeit dazu leider nicht sagen“, schränkte er ein.
Mit dem Projekt Nion Haus will der Künstler und Start-Up-Unternehmer Ryotaro Chikushi das ehemalige Kaufhaus an der Karl-Marx-Straße in einen Raum für lokalen und internationalen Austausch verwandeln. Im August 2021 stellte er seine Idee öffentlich vor. Den Rundgang durch das Sanierungsgebiet hatten Willi Laumann und andere Mitglieder aus der Lenkungsgruppe der [Aktion! Karl-Marx-Straße] organisiert. „Das Gebäude gehört weder Nion noch einer mit Nion verbundenen Partei“, bekräftigte Chikushi und erklärte: „Für das C&A-Gebäude haben wir lediglich ein Konzept für einen langfristigen Mietvertrag entwickelt.“ Das Nion Haus Neukölln verstehe sich als eine gemeinnützige Initiative, die in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit im ehemaligen Kaufhaus einen Raum für Community, Diversität, Empowerment und naturnahes Leben schaffen wolle.
Die Planungen liegen jedoch augenscheinlich auf Eis, wie ein Blick auf die Webseite zeigt. Bei Twitter meldete Nion Haus zuletzt im Mai 2021, dass zahlreiche alte Waschbecken und Toiletten der Kreislaufwirtschaft zugeführt werden sollten. Sie waren in dem Gebäude installiert worden, weil es zwischen 2015 und 2018 als Notunterkunft für Geflüchtete genutzt wurde. Für diesen Zweck war das Kaufhausgebäude allerdings aus vielen Gründen offenkundig ungeeignet. Neben Problemen, die es mit Bettwanzen und dem Brandschutz gab, boten die nur provisorisch mit dünnen Platten abgeteilten Schlafnischen der Massenunterkunft den Geflüchteten keine ausreichende Privatsphäre für einen längeren Aufenthalt.
Hartnäckig halten sich Gerüchte, denen zufolge der Eigentümer das alte Gebäude am liebsten abreißen lassen und durch einen Neubau – wahrscheinlich im Luxussegment – ersetzen würde. Völlig unklar ist jedoch, welche Auswirkungen dieser Neubau gleich nebenan auf die Projekte „Alte Post“ und „Kalle Neukölln“ haben könnte. Ersteres wurde 2017 der Öffentlichkeit präsentiert und letzteres 2019.
Im Norden Neuköllns, dem Gebiet mit den schlechtesten Werten beim Monitoring Soziale Stadtentwicklung, ist der Bedarf an hochwertigen Co-Working-Spaces, Verkaufsflächen und teuren Mikro-Appartements nur begrenzt. Neue Ideen sollten hier also eigentlich gefragt sein und selbst ein freier Bürgersteig vor der Spiegelfassade des alten C&A wäre heute schon ein Wert an sich.
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