Ein Großaufgebot von 60 Polizeikräften – teilweise schwerbewaffnet und maskiert – durchsuchte Ende 2020 die Räume des Neuköllner Begegnungsstätte e.V. / Dar Assalam Moschee. Anlass der mehrstündigen Polizeiaktion am Morgen des 26. November: Es bestand der Verdacht, dass der gemeinnützige Verein aus der Neuköllner Flughafenstraße zu Unrecht Corona-Hilfen in Höhe von 14.000 Euro erhalten haben könnte. Rechtsanwalt Johannes Eisenberg, der die Neuköllner Begegnungsstätte (NBS) juristisch vertrat, kritisierte das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und des Untersuchungsführers einen Tag später mit den Worten: “Die gesamte Art und Weise der Durchsuchung, aber auch die Verdachtsschöpfung ist völlig unangemessen und unverhältnismäßig und trägt das Stigma einer islamophobischen Motivlage.“ Für den Landesverband Berlin des Zentralrates der Muslime in Deutschland beklagte Mohamad Hajjaj: „Eine vergleichsweise geringfügige und ebenso leicht auf dem Verwaltungsweg aufzuklärender Vorwurf – nämlich die mutmaßlich unberechtigte Beantragung der Corona-Soforthilfemittel über die Investitionsbank Berlin – wird von der Staatsanwaltschaft zum Anlass genommen, eine völlig unverhältnismäßige Razzia in einem Gotteshaus zu veranlassen.“ Auch das Bündnis Neukölln, ein Zusammenschluss verschiedenster Organisationen und Einzelpersonen, artikulierte seinen Unmut über die Großrazzia in einem Brief an den Innen- und den Justizsenator sowie an die innenpolitischen Sprecher der Koalitionsfraktionen.
Jetzt hat das Amtsgericht Tiergarten eine Anklage gegen den Moschee-Verein wegen angeblich computerbetrügerischer Antragstellung auf Corona-Soforthilfe im April 2020 abgelehnt. Die im Antrag gemachten Angaben seien ausnahmslos richtig und vollständig. Es wäre Aufgabe der Investitionsbank Berlin gewesen, Einschränkungen der Antragsberechtigung, die nicht im Formular genannt sind, zu prüfen, begründete das Amtsgericht Tiergarten am 17. März seine Entscheidung. „Ich bin froh und erleichtert, aber es bleibt ein bitterer Nachgeschmack“, kommentierte Imam Mohammed Taha Sabri, der Vorstandsvorsitzender des Vereins Neuköllner Begegnungsstätte ist. „Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden und der Staatsanwaltschaft hat wieder einmal gezeigt, dass bei Muslim*innen ein anderer Maßstab angelegt wird. Ich werde noch lange brauchen, um mich von diesem Schlag zu erholen. Obschon es mich sehr glücklich stimmt zu wissen, dass diese wegweisende Entscheidung auch die vielen zu Unrecht Beschuldigten aufatmen lassen wird“, teilte Imam Sabri, dessen Dar-as-Salam-Moschee eines der größten muslimischen Gebetshäuser in Berlin ist, in einer Presseerklärung mit. Die Berliner Staatsanwaltschaft legte allerdings sofortige Beschwerde gegen die Gerichtsentscheidung ein, sodass der Fall derzeit noch nicht endgültig abgeschlossen ist.
Kritik an vermeintlich unverhältnismäßigen Großeinsätzen der Polizei, die speziell in Neukölln gegen Muslime als Beitrag zur Bekämpfung der Clankriminalität mediengerecht inszeniert würden, übt allerdings insbesondere die Initiative „Kein Generalverdacht“ bereits seit längerem. Anlässlich ihrer Gründung im November 2019 erklärte sie: „Gemeinsam wollen wir der sensationalistischen Berichterstattung entgegenwirken, die unseren Stadtteil als Gefahrengebiet darstellt. Wir wollen protestieren gegen Schikane und Willkür im Rahmen der Shishabar-Razzien.“ Erst Mitte März wandten sich Gewerbetreibende aus dem Norden Neuköllns in einem offenen Brief an Innensenatorin Ines Spranger und Bezirksbürgermeister Martin Hikel. In dem Schreiben heißt es u. a.: „Wir haben Verständnis dafür, dass Gewerbe kontrolliert und Regeln überprüft werden. Aber wir möchten nicht vorverurteilt und ohne Beweise als Kriminelle dargestellt werden. Ermitteln sie gerne gegen Kriminalität, bringen Sie Straftäter vor Gericht. Aber verdächtigen Sie dafür nicht die migrantischen Läden eines ganzen Stadtteils.“
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