Neukölln präsentiert gute Beispiele für eine lebendige Erinnerung an den Holocaust

Wie kann die Aufklärungs- und Erinnerungsarbeit zum Holocaust gestaltet werden, wenn es kaum noch überlebende Zeitzeugen gibt? Bezirksstadträtin Karin Korte stellte am Internationalen Holocaust Gedenktag drei gute Praxisbeispiele im Reuterkiez vor, wie eine lebendige und authentische Erinnerungskultur ohne die Unterstützung lebender Zeitzeugen gestaltet werden kann. „Dieser Aufgabe können wir uns nur erfolgreich stellen, wenn wir durch die Vernetzung aller Institutionen, Initiativen und Personen, unsere Kräfte bündeln. Das Museum Neukölln übernimmt – als neuer Fachbereich Museum, Stadtgeschichte, Erinnerungskultur – innerhalb dieser Vernetzung eine wichtige gesellschaftliche Schnittstellenfunktion“, sagte die Bildungs- und Kulturstadträtin zum Auftakt eines Rundgangs durch die Hobrecht- und die Friedelstraße.

Als der Graphiker Roderick Miller im Jahr 2006 nach Neukölln in die Hobrechtstraße 49 zog, fragte er sich, ob auch jüdische Bürgerinnen und Bürger während der Nazizeit in dem Haus gelebt hatten. Er erforschte mehrere Jahre lang die Biographien der ehemaligen Bewohner seines Hauses und fand heraus, dass im Erdgeschoss des Vorderhauses seit 1929 bis 1936 das jüdische Ehepaar Wilma und Alfred Kahan mit seinem Sohn Gert wohnte. Angeregt durch seine erfolgreiche Recherche gründete Miller 2014 den gemeinnützigen Verein „Tracing the past“. Zusammen mit Historikern, Archivaren sowie IT-Experten baute er die Webseite „Mapping the lives“ auf. Hier sind bereits Daten zu über 400.000 Menschen enthalten, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, Frankreich, Belgien und in den Niederlanden verfolgt wurden. So entstand im Internet der wohl größte digitale Erinnerungsort an die Opfer des Nationalsozialismus, den Miller am Donnerstagvormittag vorstellte.

Zweite Station des Ortstermins war das Haus Hobrechtstraße 57. Sage und schreibe elf Stolpersteine liegen hier im Pflaster. Harriet Merrow und Dominik Laupichler, wissenschaftliche Volontäre des Museums Neukölln, erklärten den geschichtlichen Hintergrund, warum an dieser Stelle so viele Gedenksteine liegen. Das Museum Neukölln unterstützt und koordiniert das Engagement Neuköllner Bürgerinnen und Bürger, die sich für die Verlegung eines Steins interessieren. Zusammen mit der Koordinierungsstelle Stolpersteine-Berlin hilft das Museum auch weiter, wenn es Fragen zur Verlegung oder zur Recherche nach einzelnen Personen gibt.

Vier Schülerinnen und Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums präsentierten schließlich vor dem Haus Friedelstraße 47, welche Informationen sie mit Unterstützung der Museumslehrerin Silvia Haslauer über das Schicksal der Familie Adler zusammentragen konnten. Die Kiddusch-Becher der Familie, die der neue Museumsleiter Dr. Matthias Henkel mitgebracht hatte, gehören heute zur interaktiven Ausstellungsinstallation 99 x Neukölln des Museums. Simon und Rachel Adler führten zwanzig Jahre lang ein Kolonialwaren- und Eiergeschäft in der Friedelstraße. Im November 1935 mussten sie das Geschäft auf behördliche Anordnung schließen, dachten deshalb über eine Auswanderung nach, blieben jedoch aus unbekannten Gründen in Berlin. Heinrich Adler, einer ihrer drei Söhne, wurde als jüdischer Psychiatriepatient im Rahmen der „Aktion T4“ am 10. Juli 1940 nach Brandenburg (Havel) verlegt und noch am selben Tag mit Giftgas getötet. Im Mai 1944 wurden Rachel und Simon Adler nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

„Stolpersteine in Neukölln – Erinnerung von unten“: Noch bis zum 2. April wird die Ausstellung des Mobilen Museums Neukölln in der Helene-Nathan-Bibliothek (Karl-Marx-Str. 66) Berlin gezeigt. Öffnungszeiten sowie die aktuellen G-Regeln zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind der Webseite der Bibliothek zu entnehmen.

=Christian Kölling=

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