Fahrlässigkeit im Umgang mit Feuerwerkskörpern und gezielte Zerstörungswut machen die Silvesternacht in vielen deutschen Städten zur gefährlichsten Nacht des Jahres. Nun setzt sich die Bezirksverordnetenversammlung Neukölln mehrheitlich für ein Verbot von privatem Silvesterfeuerwerk ein. Mit 29 zu 24 Stimmen und einer Enthaltung fasste sie am Mittwoch vergangener Woche folgenden Beschluss (Drucksache 23/XXI): „Das Bezirksamt wird gebeten, beim Berliner Senat dafür zu werben, dass er im Bundesrat eine Gesetzesinitiative einbringt, um ein dauerhaftes Verbot von privatem Feuerwerk zu erwirken. Auch andere Bezirke sollen für die Unterstützung der Bundesrats-Initiative des Berliner Senats gewonnen werden.“ Gegen den Antrag, der die Überschrift „Berlin feuerwerksarm: Menschenschutz, Klimaschutz, Umweltschutz“ trägt, votierten die Verordneten von CDU, FDP und AfD sowie einige Kommunalpolitiker von SPD und Linken.
Zum vergangenen Jahreswechsel hatte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer mit Zustimmung des Bundesrates den Verkauf von Silvesterfeuerwerk deutschlandweit untersagt. „Wegen der Corona-Pandemie ist in diesem Jahr vieles anders. Das Verkaufsverbot für Silvesterfeuerwerk schützt unsere Krankenhäuser vor Überlastung“, begründete Seehofer zwei Tage vor Weihnachten sein Verbot. Das Facetten-Magazin konnte anschließend melden, dass der Jahreswechsel 2020/2021 „vergleichsweise ruhig“ verlief: “An der Hobrecht-/Sanderstraße wurde die Polizei gegen 0.50 Uhr aus einer bis zu 80 köpfigen Personengruppe angegriffen. In Buckow brannten gegen 00.45 Uhr Mülltonnen an der Wand eines Supermarktes. Die alarmierte Feuerwehr konnte nicht verhindern, dass der circa 800 Quadratmeter große Supermarkt an der Marienfelder Chaussee vollständig ausbrannte.”
Bereits vor der Abstimmung in der BVV erreichte den Antragssteller Dr. Christian Hoffmann (Grüne) – ebenso wie andere Neuköllner Bezirksverordnete – eine vierseitige Stellungnahme des Verbandes der pyrotechnischen Industrie (VPI): „Zwar gibt es zu Silvester eine Häufung von Einsätzen der Rettungsdienste, Feuerwehren und definitiv auch der Polizei – die Auslöser dafür liegen aber in der Regel nicht primär im Feuerwerk begründet. Hauptursache für die vermehrten Einsätze in der Silvesternacht dürfte der Alkoholmissbrauch sein“, erklärte der VPI-Vorsitzende Thomas Schreiber in seinem Schreiben vom 21. November, das mir vorliegt. „Vielleicht sollte da eher die Frage nach einem Alkohol- denn einem Feuerwerksverbot diskutiert werden“, gab Schreiber zu bedenken. Stürze, Schlägereien, Schnittwunden und letztlich auch Unfälle durch unsachgemäßen Umgang mit Feuerwerkskörpern seien nämlich zumeist auf Alkohol zurückzuführen. Des weiteren erklärte Schreiber ausführlich, weshalb Umwelt- und Gesundheitsaspekte kein generelles Verbot von privatem Silvesterfeuerwerk rechtfertigen würden. Auf Nachfrage teilte mir der VPI mit: „Schon seit Jahren versuchen wir durch Aufklärungsarbeit darauf hinzuwirken, dass nur zugelassenes Silvesterfeuerwerk ordnungsgemäß (gemäß Gebrauchsanweisung) verwandt wird, um somit zu verhindern, dass es zu Unfällen kommt.“ Hierfür habe der Verband eigens die Aufklärungskampagne „Lass es krachen, aber richtig“ initiiert und Videos erstellt.
Bekannteste Kritikerin der privaten Silvesterknallerei ist die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die sich nach eigener Aussage seit Jahren für ein Feuerwerksverbot einsetzt. Zum Jahreswechsel würden regelmäßig Unmengen von Schwarzpulver in die Luft geschossen, sodass es einen enormen Anstieg der Feinstaubbelastung gebe. Private Feuerwerke produzierten zudem jährlich tausende Tonnen an unnötigem Müll. Die Knallerei sei für Haustiere, aber auch für Wildtiere und Nutztiere ein Albtraum. Außerdem komme es jedes Jahr zu schwerwiegenden Verletzungen und zu unzähligen Sachschäden, argumentiert der Verband. Aktuell setze sich die DUH in einem Bündnis mit Vier Pfoten und dem Deutschen Tierschutzbüro, der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sowie Ärztevertretern für ein Verbot von privatem Silvesterfeuerwerk ein, erklärt die Umwelthilfe auf ihrer Webseite. In Berlin hat sie außerdem – ebenso wie in vielen anderen deutschen Städten – eine Unterschriftensammlung gegen privates Silvesterfeuerwerk angefangen. Entschiedenster Kritiker des Aktionsbündnisses ist der Bundesverband Pyrotechnik und Kunstfeuerwerk e. V..
Zum Jahreswechsel 2019/2020 stellten sich die Vivantes-Rettungsstellen zwischen Spandau und Neukölln auf 500 zusätzliche Notfälle ein. Gut 5 Prozent aller Notfallaufnahmen gingen allein auf pyrotechnische Verletzungen zurück, wie eine interne Erhebung der Silvesternacht 2018/2019 ergab. Damals seien insgesamt 62 Menschen mit Feuerwerksverletzungen behandelt worden. „Die meisten von ihnen, nämlich 35 Silvesterverletzte, versorgte das Vivantes-Klinikum Neukölln (56 Prozent)“, erklärte das Krankenhaus-Unternehmen. Auffällig sei zudem gewesen, dass 33 von 62 Feuerwerksverletzten (53 Prozent) Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren. „Der ‚durchschnittliche‘ Silvester-Verletzte in Berlin war männlich und 21 Jahre alt“, bilanzierten die Vivantes-Rettungsstellen. Hände, Gesicht und Ohren seien bei Feuerwerksverletzungen mit Böllern und Raketen am häufigsten betroffen. Nicht-zertifizierte Pyrotechnik erhöhe das Risiko schwerer Verletzungen, aber auch zertifizierte Ware werde bei falscher Nutzung zur Gefahr, warnten erst wieder vor dem zurückliegenden Jahreswechsel die Deutsche Gesellschaft für Handchirurgie sowie die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie in der Ärztezeitung.
Die Kritik an der unkontrollierten Silvesterknallerei, die es in Neukölln schon lange gibt, wurde schließlich lauter, nachdem das traditionsreiche Musikhaus Bading am Karl-Marx-Platz mithilfe von Feuerwerkskörpern zum Jahreswechsel 2017/2018 mutwillig in Brand gesetzt worden war. Im Januar 2018 forderte die BVV-Fraktion der Grünen damals noch erfolglos, den Verkauf von Feuerwerk aus bezirkseigenen Immobilien zu verbieten und auf Landesebene eine Lösung für eine wirksame Einschränkung von Feuerwerk zu finden. Der Wunsch, Rettungskräfte und Krankenhäuser mitten in der vierten Corona-Welle zu entlasten, mag auch ein Grund gewesen sein, weshalb der Antrag „Berlin feuerwerksarm: Menschenschutz, Klimaschutz, Umweltschutz“ nun im Neuköllner Bezirksparlament eine Mehrheit fand. Neben Umwelt- und Gesundheitsaspekten führte der Verordnete Hoffmann noch ein weiteres Argument an. Nach der harmonisierten EU-Gesetzgebung zu Feuerwerk dürften sogenannte Feuerwerksbatterien inzwischen bis zu 500 Gramm Sprengstoff enthalten, schrieb er in seiner Antragsbegründung und erläuterte: „Solche Sprengstoffangebote werden nicht nur zum alljährlichen Vergnügen zum Jahreswechsel genutzt. Sie dienen inzwischen vermehrt dazu, die Einsatzkräfte von Feuerwehr, Rettungsdiensten und Polizei anzugreifen oder mit dem legal erworbenen Material illegale Sprengsätze herzustellen.“
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