In jedem Museum werden Erinnerungen an frühere Erlebnisse oder Erfahrungen ebenso wie historisches Wissen gesammelt, aufbereitet und für ein bestimmtes Publikum verständlich vermittelt. Welche Ereignisse sind aber eigentlich erinnerungswürdig? Was hat überhaupt eine geschichtliche Bedeutung? Das Museum Neukölln entwickelte seit Ende der 1980er Jahre unter Leitung von Dr. Udo Gößwald eine eigene Konzeption, wie Stadtkultur und Regionalgeschichte gerade in einem Neuköllner Museum angemessen präsentiert werden können.
„In Anlehnung an die Idee von Emil Fischer soll ein modernes Museum eingerichtet werden, nicht für die Auserlesenen, sondern für das Volk“, forderte Gößwald 1991. „Es muss ansprechen, einnehmen, festhalten, zum Verweilen und Betrachten, zur Mitarbeit anregen und zur Wiederkehr zwingen“, zitierte er den Gründer des Heimatmuseums damals im Katalog der Ausstellung „Erinnerungsstücke: das Museum als soziales Gedächtnis“. Gößwald ging im Sommer in den Ruhestand. Seine letzte Ausstellung, die den Titel „Das Museum des Lebens. Private Erinnerungskultur aus Neukölln“ trägt, ist noch bis Ende Dezember auf dem Gutshof Britz zu sehen.
Gezeigt werden Fotografien, Dokumente und Gegenstände, die über die Lebenswege und Schicksale von zehn Verstorbenen erzählen, deren Geschichte eng mit Neukölln verbunden ist. Es sind Menschen, die während ihres Lebens nicht im Scheinwerferlicht öffentlicher Aufmerksamkeit standen und die erst nach ihrem Tod durch die Inszenierung ihrer Nachlässe gewürdigt werden. Zu den Exponaten gehören sowohl Gegenstände, die direkt aus dem Nachlass der Verstorbenen stammen, wie auch Dinge, mit denen sich die Hinterbliebenen an ihre Angehörigen und Freunde erinnern. Jusef El-Abed, der im Alter von 18 Jahren erstochen wurde, brachte als Kind einen großen weißen Teddybären mit in die Schule. Das Plüschtier ist jetzt nicht weit entfernt von einem Bilderrahmen ausgestellt, mit dem sich ein Polizeibeamter des SEK noch heute an seinen erschossenen Kollegen Roland Krüger erinnert.
Ein alter Werkzeugkasten, den die Tochter des Dachdeckers Willi Mielke als Erinnerungsstück unverändert aufbewahrt, gehört ebenso zu den Ausstellungsstücken wie ein monokulares Taschenfernglas des Zivilfahnders Uwe Lieschied, das den Sohn an die gewissenhafte Arbeit des Vaters erinnert. „Nicht die Objekte dürfen im Vordergrund stehen, sondern das Verhältnis der Menschen zu den Gegenständen, die sie besessen, produziert, geerbt oder gefunden haben“, formulierte Gößwald vor 30 Jahren seinen grundlegenden Anspruch an die Museumsarbeit.
Im aktuellen Ausstellungskatalog nimmt der Museumsleiter auf den Soziologen Didier Eribon und seinen autobiografischen Bericht „Rückkehr nach Reims“ Bezug: Weil es in proletarischen Familien keine vererbten Häuser gebe, seien auch keine Orte der Erinnerung – keine Archive in Schubladen und Schränken solcher Häuser – vorhanden. „Umso mehr ist ‚Das Museum des Lebens‘ der Versuch, dieser gesellschaftlich bedingten Geschichtsleere eine andere Form der sozialen Erinnerung entgegenzusetzen. Damit ist zugleich das Anrecht jedes Menschen formuliert, dass sein Leben in seiner Besonderheit gewürdigt wird“, schrieb Gößwald 2021. Petra Pluschke lebte eine Hälfte ihres Lebens auf den Fidschi-Inseln, die andere Hälfte in Neukölln. Elisabeth Rosenthal besuchte in den 1930er Jahren die Schule in Britz, floh vor den Nazis nach England, blieb mit ihrer alten Schulfreundin aber weiterhin in Kontakt und schrieb ihr Karten. Die Geschichten beider Frauen, die sich schon zu Lebzeiten mit dem Museum Neukölln austauschten, waren bereits vor ihrem Tod im Bezirk bekannt. Ausgewählte Erinnerungsstücke, die von Freunden und Angehörigen ausgesucht wurden, lassen nun ein lebendiges Bild von ihnen entstehen.
Einmal mehr werden mit der Ausstellung „Das Museum des Lebens“ ausdrücklich Exponate in die Öffentlichkeit gebracht, die von den Lebensleistungen der breiten Bevölkerung zeugen und die üblicherweise in musealen Sammlungen fehlen. Das kulturelle Erbe der breiten Bevölkerung bleibt deshalb oft unsichtbar und unzugänglich. Es ist aus der Geschichtsschreibung weitgehend ausgeschlossen. Für das Projekt wurden intensive Gespräche mit den Angehörigen und Freunden der verstorbenen geführt. Sie sind im Ausstellungskatalog dokumentiert und wurden als Grundlage der Texte verwendet, die in der Ausstellung mit einem Audio-Guide angehört werden können.
Das Museum Neukölln (Alt-Britz 81) ist täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet; der Eintritt ist frei.
Im 191-seitigen Katalog zur Ausstellung werden anhand von Fotografien, Dokumenten und Gegenständen die Lebenswege und Schicksale von zehn Verstorbenen erzählt, deren Leben eng mit Neukölln verbunden waren. Der von Dr. Udo Gößwald herausgegebene Katalog ist für eine Schutzgebühr von 18,90 € erhältlich.
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