Julia Friedrichs stellte ihr Buch „Working Class“ im Rollberg-Viertel vor

Jährlich am 7. Oktober richtet der Internationale Gewerkschaftsbund den Welttag für menschenwürdige Arbeit aus. Mit Veranstaltungen, Diskussionen, Flashmobs und anderen Aktionen macht er regelmäßig für existenzsichernde Löhne, soziale Sicherungen, gefahrenfreie sowie sichere Arbeitsplätze mobil. „Just Jobs“ lautete das Motto der Kampagne 2021, die längst nicht nur in China, Bangladesh oder in der Türkei aktuell, sondern ebenso in Deutschland für Teile des Arbeitsmarktes brisant ist.

Auf Einladung des Deutschen Gewerkschaftsbundes stellte Julia Friedrichs am Donnerstagabend im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst ihr neuestes Buch „Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ vor. Hier im Neuköllner Rollberg-Viertel, wo bei Kindl einst Bier gebraut wurde. bevor die Kunstszene in den denkmalgeschützten Klinkerbau einzog, liegt das große Jobcenter für Hartz-IV-Beziehende, unter denen viele trotz Arbeit auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts angewiesen sind, gleich nebenan. Kaum ein Ort könnte geeigneter sein, um mit dem DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell und dem Publikum über prekäre Arbeit, Armut, Chancen- und Vermögensungleichheit zu diskutieren.

„Gerade meine Generation muss aktiv werden“, erklärte die 1979 geborene Autorin, Filmemacherin und Journalistin: „Ich bin Reporterin, weil ich an die Kraft der Aufklärung glaube.“ Während die Generation der sogenannten Babyboomer oft noch mit eigener Arbeit einen bescheidenen Wohlstand aufbauen konnte, gelte dieses Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft nun nicht mehr, sagte sie unter Berufung auf die Arbeiten der Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat für das Phänomen den Begriff der „Abstiegsgesellschaft“ geprägt. „Was ist in den 2000er Jahren passiert? Wieso gibt es heute sowohl mehr Privatiers, die von ihrem Vermögen leben, als auch mehr Tafelkunden, denen das Geld für Lebensmittel fehlt?“ Um diese Fragen kreist die neue Veröffentlichung von Julia Friedrichs, die bereits 2015 ihr Buch „Wir Erben“ in der Buchhandlung „Die gute Seite“ am Neuköllner Richardplatz vorstellte.

„Die Arbeiterklasse ist unsichtbar geworden“, befindet die Autorin. In der modernen Sozialstruktur gebe es weiterhin Klassen und nicht nur noch Lebensstile oder Milieus. Durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes, Outsourcing und Scheinselbständigkeit seien jedoch frühere Belegschaften mit Klassenbewusstsein und dem Gefühl einer Betriebszugehörigkeit aufgespalten worden. Dem neu entstandenen Prekariat gibt Friedrichs die Bezeichnung „Working Class“. Sie ersetzt zwar das antiquierte Wort „Arbeiterklasse“, benennt aber den weiterhin bestehenden Klassencharakter der Gesellschaft deutlich.

Sait, der im Auftrag einer Fremdfirma die Bahnhöfe der Berliner U-Bahn reinigt, sowie das Ehepaar Alexandra und Richard, die beide als ungewollt Selbständige an einer Musikschule unterrichten, stellte Friedrichs während ihrer Lesung als Protagonisten der „Working Class“ vor. Der ungelernte Arbeiter und die studierten Musiker könnten kaum unterschiedlicher sein. Sie empfinden sich nicht als Gruppe mit gemeinsamen Interessen. Ihnen allen würde eine stärkere Regulierung des Arbeitsmarktes mit tarifvertraglich gesicherten Arbeitsplätzen und höheren Mindestlöhnen jedoch gleichermaßen helfen, ist Friedrichs überzeugt. Ein Video der Veranstaltung vom 7. Oktober gibt es auf der Webseite des DGB.

Julia Friedrichs‘ 320-seitiges Buch „Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“, erschienen im Piper-Verlag, ist für 22 Euro im örtlichen Buchhandel erhältlich.

=Christian Kölling=

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