Bezirksbürgermeister Martin Hikel stellte am Freitag vorletzter Woche ein Pilotprojekt vor, das alle, die auf Fahrrädern oder E-Scootern in Neukölln unterwegs sind, vom Befahren der Gehwege abhalten soll. Zwei Tage vor dem Superwahlsonntag griff Hikel zu Schablone und Spraydose, um mit Pressebegleitung ein leichtverständliches Piktogramm auf dem Gehweg aufzutragen. Anschließend sprühte der Graffiti-Künstler Marcus Plesser – auch bekannt als Stereoheat – an fünf Stellen im Norden des Bezirks Piktogramme, die ein durchgestrichenes Fahrrad bzw. einen durchgestrichenen E-Scooter zeigen, auf die Fußgängerwege.
„Gehwegfahrende werden so aufgefordert, nicht auf dem Bürgersteig zu fahren, sondern sich straßenverkehrskonform zu verhalten“, erklärte Hikel und fügte hinzu: „Nur durch gegenseitige Rücksichtnahme und durch die Einhaltung der geltenden Regeln können wir die Konflikte im Verkehr reduzieren.“ Der Bezirksbürgermeister versprach, dass das Ordnungsamt gezielter die Bürgersteige kontrollieren würde und verwies auch auf die neue Praxis der Neuköllner Ordnungshüter, falsch abgestellte E-Scooter auf Gehwegen zu ahnden. „Insbesondere bei Verkehrsgefährdungen – etwa wenn Leih-Scooter mittig auf dem Gehweg abgestellt werden – wird ein Bußgeld von bis zu 30 Euro fällig. Damit reagiert der Bezirk auf erhebliche Verkehrsgefährdungen durch falsch abgestellte Fahrzeuge“, erläuterte Hikel.
Das Pilotprojekt des Bezirksamtes wird zunächst etwa drei Monate dauern bis die weißen Piktogramme verblasst sind. Die Sprühaktion wird mit einer zweisprachigen Kampagne in sozialen Medien unter dem Hashtag #bessermiteinander bzw. #bettertogether begleitet. Im Anschluss soll eine Auswertung der Aktion erfolgen, die auch die Reaktionen aus der Bevölkerung einbezieht. „Könnte man eigentlich auf JEDE Straße sprühen.“ „Traurig, dass das nicht selbstverständlich ist.“ „Farbe ist keine Infrastruktur. Die Firmen müssen endlich verpflichtet werden, Gewerbeflächen im öffentlichen Raum anzumieten und nur da die Rückgabe ihrer Bordsteinschwalben zu akzeptieren.“ „Wie sieht es denn aus mit den Fußwegecken Geyger-/Donaustraße? Mehrfach bei OA angemahnt“, lauteten die ersten Reaktionen aus der Bevölkerung, die bei Twitter eingingen.
Auch ich wollte wissen, nach welchen Kriterien und mit wieviel Personal das Ordnungsamt in Zukunft die Bußgelder verhängt. Ich schickte deshalb nebenstehendes Foto, das ein Leihrad und einen E-Scooter an der Hobrecht-/Lenaustraße zeigt, als anschauliches Beispiel aus dem Alltag an das Bezirksamt Neukölln: „Versperren das Rad oder der E-Roller oder beide Gefährte oder keines von beiden den Gehweg? Wäre es nicht einfacher, das Abstellen von Leihfahrzeugen auf dem Trottoir grundsätzlich zu verbieten?“ Christian Berg, Pressesprecher des Bezirksbürgermeisters, konnte zwar keine spontane Antwort geben, leitete meine Anfrage allerdings an das Ordnungsamt weiter. Vielleicht kann mir das Ordnungsamt zudem erklären, warum das Befahren der Gehwege mit Rädern und E-Scootern nicht schon lange kontrolliert und geahndet wird. Dass nur Kinder bis zum vollendeten 8. Lebensjahr mit maximal einer erwachsenen Begleitperson auf dem Gehweg fahren dürfen, gilt schließlich schon seit einer Änderung der Straßenverkehrsordnung im Dezember 2016 und sollte eigentlich allgemein bekannt sein.
E-Roller sind in vielen deutschen Städten seit Sommer 2019 verfügbar. Bürgermeister Hikel kritisierte bereits damals im Interview der Sendung „ZDF Zoom“, dass es für die Nutzung der Leihroller kaum Regularien gebe. Dem Tagesspiegel erklärte er einst, dass beispielsweise der Fünfmeterbereich um Kreuzungen und Einfahrten prädestiniert für einen Umbau zu gesicherten Stellplätzen sowohl für Scooter als auch für Fahrräder sei. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) warnte ebenfalls frühzeitig: „Seit ihrer Zulassung im Juni 2019 gefährden E-Scooter in zunehmendem Maße die Mobilität und Sicherheit behinderter Menschen und damit die Teilhabe am öffentlichen Verkehrsraum.“ Deshalb fordert der DBSV bislang weitgehend erfolglos die Durchsetzung des Verbots von E-Scootern auf Gehwegen und die Festlegung verbindlicher Parkflächen. Der Ärger über die verschiedensten Elektrokleinstfahrzeuge auf dem Trottoir wurde schließlich erstmals ausführlich im November 2019 vom Ausschuss für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz des Berliner Abgeordnetenhauses aufgegriffen.
Ein zweites Mal beschäftige sich das Berliner Landesparlament im August und September – kurz vor dem Ende der Legislaturperiode – mit dem Thema. In einer Anhörung sprach sich Rechtsanwalt Dr. Thomas Hiby, der Mandanten nach Unfällen mit E-Rollern vertritt, für streng geschützte Fußgängerbereiche aus. Für die Verleiher der E-Scooter sprachen Alexander Jung, Direktor LimeBike Deutschland, sowie Lawrence Leuschner, Chef und Mitgründer des Berliner Unternehmens TIER-Mobility.
Das Parken der E-Roller jenseits der Bürgersteige müsse in Berlin erst ermöglicht werden, indem in der Stadt ausreichend Abstellflächen zur Verfügung gestellt werden, forderten Jung und Leuschner. Zweitens müsse die Sicherheit auf der Fahrbahn für Tretroller und Velos erhöht werden. Andere europäische Metropolen würden schon längst vormachen, wie es ginge. Paris habe innerhalb kürzester Zeit 2.500 Stellflächen für E-Kleinstfahrzeuge geschaffen. London und Mailand könnten ebenso wie die Hansestadt Bremen als Vorbild dienen. In Berlin gebe es derzeit weniger als 50 gekennzeichnete Stellplätze für E-Roller.
Nachdem das Thema noch einmal in der Tagesordnung des Verkehrsausschusses vom 9. September aufgerufen wurde, stimmten die Fraktionen der Regierungskoalition in der letzten Sitzung der 18. Legislaturperiode einer Änderung des Berliner Straßengesetzes zu. Sie trägt den etwas sperrigen Namen „Gesetz zur Anpassung straßenrechtlicher Bestimmungen insbesondere im Hinblick auf das gewerbliche Anbieten von Mietfahrzeugen“. Die Verkehrspolitiker von CDU und FDP, Oliver Friederici und Henner Schmidt, hatten zuvor massive rechtliche Bedenken gegen das Gesetz vorgebracht, wobei insbesondere der Paragraph 11a im Zentrum ihrer Kritik stand. Es sei ungerechtfertigt, dass keine Unterscheidung zwischen Carsharing-Angeboten, die durch ein Bundesgesetz privilegiert sind, und anderen Sharing-Angeboten gemacht würde. Das Gesetz, für das noch keine Ausführungsvorschriften geschrieben worden sind, tritt erst Ende kommenden Jahres in Kraft.
„Für die nächsten zwei Jahre ist erst einmal weiterhin Vorsicht geboten“, warnte Dr. Verena Staats, Geschäftsführerin des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV), nicht nur ihre Mitglieder folgerichtig. Der ABSV hatte sich nach eigenem Bekunden mehrfach – zuletzt noch einmal kurz vor der entscheidenden Sitzung – an die Abgeordneten gewandt und eine schnellere Umsetzung angemahnt. Nutzungskonflikte zwischen E-Rollern, Rädern und Zufußgehenden werden in der neuen Legislaturperiode also ein Thema bleiben. Vielleicht gehen sie auch in Koalitionsverhandlungen auf Landes- und Bundesebene oder in die Gespräche über die Bildung von Zählgemeinschaften auf Bezirksebene ein. Eine aktuelle Stellungnahme, wie vorhandene Nutzungskonflikte langfristig gelöst werden könnten, war bis zum Wochenende von Bezirksbürgermeister Martin Hikel, der das Pilotprojekt angestoßen hat, leider nicht zu erhalten.
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