213 Kerzen standen in dieser Wochen gut sichtbar in den Fenstern des Rathaus Neukölln. Sie erinnerten unmittelbar im Zentrum des Bezirks an alle Menschen, die in Deutschland seit 1990 als Opfer rechtsextremer oder rassistischer Gewalt getötet wurden. Die Lichter zum Gedenken an die Todesopfer waren anlässlich des 1. Jahrestages der rassistischen Morde in Hanau aufgestellt worden. Auf einem Transparent am Rathaus-Balkon waren zudem die Portraits und die Namen der neun Hanauer Mordopfer zu sehen. Der Feuerüberfall vom 19. Februar 2020 war seit dem Anschlag auf dem Münchner Oktoberfest im September 1980 der schwerste Angriff mit einem rechtsextremen Hintergrund in der Geschichte der Bundesrepublik. Unmittelbar nach dem Amoklauf flüchtete der 43-jährige Täter in seine Wohnung, wo er seine 72-jährige Mutter und anschließend sich selbst erschoss.
„Ich schäme mich, dass das Rathaus wegen dieser Kerzen heute so hell ist: Es ist eine Schande, das so viele Menschen seit 1990 von Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten umgebracht worden sind!“, sagte Bezirksbürgermeister Martin Hikel vergangenen Donnerstag, am Vorabend des düsteren Jahrestages, bei einer Gedenkkundgebung auf dem Rathausvorplatz. „Vor einem Jahr starben Menschen, die auch Neuköllnerinnen und Neuköllner hätten sein können“, erklärte Hikel seine Betroffenheit. Die Opfer seien ganz normale Menschen gewesen, die Hanau ihre Heimat nannten und die Stadt ausmachten. „Es ist nicht normal, dass Menschen wegen ihres Aussehens und ihrer Herkunft umgebracht werden“, mahnte Hikel und forderte: „Rassistische Morde dürfen nicht Normalität werden!“
Vili Viorel Păun, 22, kam als 16-jähriger aus Rumänien nach Deutschland und arbeitete als Paketzusteller, um seine Familie zu unterstützen, wie die Amadeu-Antonio-Stiftung schreibt. Mercedes Kierpacz, 35, war Mutter zweier Kinder und arbeitete in einem Kiosk. Fatih Saraçoğlu, 34, wurde in der Türkei geboren und war zuletzt aus Regensburg nach Hanau gezogen, um sich selbstständig zu machen. Kaloyan Velkov, 33, lebte erst seit zwei Jahren in Deutschland. Er war Wirt und wollte seine Familie in
Bulgarien mit seiner Arbeit finanziell unterstützen, informiert die Stiftung weiter. Ihre Vorsitzende ist Anneta Kahane, die als zweite Rednerin der Gedenkkundgebung auftrat.
Said Nesar Hashemi, 21, war gelernter Maschinen- und Anlagenführer. Im nächsten Jahr wollte der Hanauer seine Weiterbildung zum staatlich geprüften Techniker abschließen. Hamza Kurtović war mit gerade einmal 20 Jahren das jüngste Opfer des Anschlags. Er hatte kurz vor der Tat seine Berufsausbildung als Fachlagerist abgeschlossen und war gerade in die Arbeitswelt eingestiegen. Gökhan Gültekin. 37, war gelernter Maurer und arbeitete abends nebenberuflich in einem Café-Kiosk. Ferhat Unvar, 22, hatte gerade seine Lehre als Heizungs- und Gasinstallateur abgeschlossen und war dabei, eine eigene Firma zu gründen. Sedat Gürbüz, 29, lebte bei seinen Eltern in Dietzenbach und war Besitzer der Bar “Midnight”, wo der Täter die ersten drei von neun Menschen ermordete.
Wie groß die in Neukölln die Betroffenheit über die rassistischen Morde ist, zeigte sich bereits im vergangenen Jahr: Unmittelbar nach dem Terroranschlag auf die beiden Shisha-Bars in Hanau folgte eine spontane Demonstration in Bezirk. Weit über 3.000 Menschen zogen damals vom Hermannplatz durch die Sonnenallee zum Rathaus und wieder zurück.
Claudia von Gélieu, eine weitere Rednerin der Gedenkkundgebung am Donnerstagabend, verfolgt im Bündnis Neukölln die besorgniserregende Entwicklung des Rechtsextremismus in Neukölln seit langem. Sie gehört zum Leitungsteam der Galerie Olga Benario und ist beim Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten VVN aktives Mitglied. Im Februar 2017 brannte ihr Auto nach einem mutmaßlich rechtsextrem motivierten Anschlag vollständig aus. „In Neukölln gibt es einen Stadtrat, der immer wieder versucht, das Bündnis Neukölln als ‚linksextrem‘ zu desavoieren“, kritisierte sie den Bezirksstadtrat Falko Liecke scharf, ohne ihn namentlich zu nennen. Weiterhin erinnerte von Gélieu daran, dass die Betroffenen der Neuköllner Anschlagserie seit Sommer 2019 in einer Petition, die mit über 25.000 Unterschriften unterstützt wurde, bislang vergeblich vom Berliner Abgeordnetenhaus die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses fordern, der mögliche Mängel in der Arbeit der Sicherheits- wie auch der Strafverfolgungsbehörden aufdecken soll.
„Ich habe kürzlich die Mutter von Burak Bektaş gesprochen“, teilte Kazim Erdoğan den Zuhörern vor dem Rathaus Neukölln mit: „Sie wartet seit neun Jahren vergeblich darauf, dass der Mord an ihrem Sohn aufgeklärt wird.“ Abschlussredner Nader Khalil bekannte, zugleich traurig und wütend zu sein: „Ich wusste ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen sollte, als ich heute über meine Rede nachdachte. Es ist Solingen, Düsseldorf, Köln, München, Rostock, Hanau. Wo soll ich anfangen?! Diese Blutspur, die sich durch die ganze Bundesrepublik zieht, hat viel zu viele Leben gekostet.“ Die Familien der Opfer würden überall bis an das Ende ihres Lebens in Traurigkeit leben. “In diesen schwierigen Zeiten müssen wir Courage zeigen“, forderte Khalil die Anwesenden auf, bevor die Kundgebung mit einer Schweigeminute beendet wurde.
Tags darauf, am Jahrestag des Attentats in Hanau, fanden in Berlin am Leopoldplatz, auf dem Oranienplatz sowie vor dem Rathaus Neukölln drei weitere Trauerkundgebungen statt. Auf dem Rathausvorplatz sowie in der Erk- und der Boddinstraße kamen gegen 16 Uhr Hunderte zusammen. Gestern startete schließlich um 14 Uhr vom U- und S-Bahnhof Hermannstraße eine Gedenkdemonstration für die Opfer des Anschlags in Hanau.
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