Tabu-Thema „Häusliche Gewalt“ wächst in Krisenzeiten

Dass in gesellschaftlichen Extremsituation die Gewalt gegen die Schwächsten zunimmt, ist eine traurige Erkenntnis, die sich als Folgewirkung der Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie weltweit gerade wieder bestätigt. Was aus epidemiologischer Sicht in Wuhan, New York und auch Berlin notwendig ist, führt zu sozialem Stress, innerfamiliären Spannungen und damit verbunden zu einem Anstieg häuslicher Gewalt, die sich vornehmlich gegen Frauen und Kinder richtet, weil manche Männer den Weg der gewaltfreien Konfliktbewältigung nicht kennen.

Mit Leuchtreklamen macht deshalb zum Beispiel der Weiße Ring in einer prominenten-Kampagne auf das Tabu-Thema „Häusliche Gewalt“aufmerksam, und an Neuköllner Häuserwänden erinnern spontan geklebte Plakate daran, dass es zahlreiche Anlaufstellen gegen Gewalt in der Nachbarschaft gibt. Das Frauenzentrum affidamento in der idyllischen Rixdorfer Schmiede auf dem Richardplatz hat als Blickfang einen Stuhl vor seinem Schaukasten aufgestellt: Telefonisch und via E-Mail ist das Frauenzentrum weiterhin erreichbar und persönliche Beratungsgespräche können unter Einhaltung der bestehenden Regelungen zur Eindämmung der Pandemie ebenfalls vereinbart werden. Basis-Informationen stehen auf der Webseite stärker-als-gewalt.de des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Jede dritte Frau in Deutschland ist mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner. Betroffen sind Frauen aller sozialen Schichten. Opfer von Partnerschaftsgewalt sind zu über 81 Prozent Frauen. Fast die Hälfte von ihnen hat in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Tatverdächtigen gelebt“, musste Familienministerin Dr. Franziska Giffey erst Ende Februar wieder bekannt geben. In Neukölln wird regelmäßig am 25. November der internationale Aktionstag Tag „Nein zu Gewalt an Frauen“ begangen. „Oft werden rohe Gewalt und selbst Tötungsdelikte als Familiendrama bagatellisiert“, kritisierten die Organisatorinnen im Herbst 2018.

Rund 2.000 Frauen und fast ebenso viele Kinder fanden seit 1983 in den Zufluchtswohnungen des ZUFF e. V. Schutz und ein vorübergehendes Zuhause, worauf am Aktionstag im November des vergangenen Jahres vor dem Rathaus Neukölln aufmerksam gemacht wurde. „Zu einer der negativen Auswirkungen der Coronakrise gehört leider, dass durch die räumliche Enge, verursacht durch die Ausgangsbeschränkungen und das Abstandsgebot, auch die Fälle von häuslicher Gewalt gestiegen sind“, bestätigte mir kürzlich die Neuköllner Landesparlamentarierin Anja Kofbinger, Sprecherin für Frauen- und Gleichstellungspolitik sowie Queerpolitische Sprecherin der Grünen Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Sie hatte sich bei den Mitarbeiterinnen des Trägervereins für Zufluchtswohnungen zuvor exemplarisch über die Situation informiert.

„Die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, verlangt die Schaffung einer ausreichend großen Anzahl von Unterkünften, um allen Opfern übergangsweise eine angemessene Unterbringung anzubieten“, sagte mir Kofbinger und fügte hinzu: „ZUFF gehört in mehrfacher Hinsicht zu den in der Konvention benannten relevanten NGOs.“ Das Thema „Gewalt im sozialen Nahraum“ müsse langfristig und intensiv auf die Agenda gesetzt werden. Jeder weitere Schutz- und Frauenhausplatz sei selbstverständlich hilfreich, es müsse aber zusätzlich auf allen Ebenen – auch bei Gerichten, Polizei und Jugendämtern – insbesondere zum Problem der sexualisierten Gewalt intensive Aufklärungsarbeit geleistet werden. „Die ZUFF-Mitarbeiterinnen wünschen sich endlich eine Regelfinanzierung“, berichtete Kofbinger ferner und schloss sich der Forderung an: „Dazu sollte sich die zuständige Senatsverwaltung endlich in der Lage sehen. In Zeiten, in denen sich so schnell so viel geändert hat, sollten wir das auch noch hinbekommen.“

=Christian Kölling=

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