Das historische Bet- und Schulhaus der Böhmen an der Kirchgasse 5, das bereits ein kleines Museum zur Geschichte des Böhmischen Dorfes und der Herrnhuter Brüdergemeine in Berlin beherbergt, war am Freitagnachmittag der Schauplatz einer großen Einweihungsfeier. Im Haus neben der Statue des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I.,der Glaubensflüchtlingen einst Asyl gewährte, wurde das Archiv im Böhmischen Dorf eröffnet. Es dokumentiert das Leben der geflüchteten Böhmen und ihrer Nachkommen – und damit fast 300 Jahre Migrationsgeschichte in Rixdorf und Berlin. Zum Archiv gehören eine Bibliothek, eine Sammlung von Instrumenten, liturgischen Gegenständen, Trachten, Gemälden sowie ein Fotoarchiv. Teile der Sammlung sind im benachbarten Museum ausgestellt, mit dem es eine enge Zusammenarbeit gibt.
Für den Verein Archiv im Böhmischen Dorf, der das Archiv seit 2015 dauerhaft betreut, begrüßte der Vorsitzende Prof. Dr. Ulrich Krystek zahlreiche Eröffnungsgäste im weitläufigen Garten des unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes, das 1753 errichtet wurde und ab 1909 als Wohnhaus diente. Eigentümer des Archivs ist die Brüdergemeine, die die Umbauarbeiten für die Einrichtung des Dokumentationszentrums finanzierte. Pfarrer Christoph Hartmann dankte allen, die sich unermüdlich für die Verwirklichung des Vorhabens einsetzten, und hob namentlich die Arbeit des Archivars hervor: „Es war ein Glücksfall für die Gemeinde, dass sich Stefan Butt für das Archiv engagiert hat.“
„Für ein lebendiges Archiv, in dem es keine verstaubten Akten gibt, habe ich gerne die Einwilligung gegeben, dass es in eine ehemalige Wohnung einzieht“, sagte Bezirksstadtrat Jochen Biedermann in seinem Grußwort. Das benachbarte Museum zur Geschichte des Böhmischen Dorfes ist schon seit 2005 in einer früheren Wohnung untergebracht. Ein wesentlicher Bestandteil des Archivs sind die Lebensläufe von Gemeindemitgliedern, die handschriftlich auf 1.500 Seiten zwischen 1740 und 1830
festgehalten wurden, sowie 3.500 Chorreden, das sind Predigten an Eheleute. Aleksej Tikhonov, der in seiner Dissertation an der Humboldt-Universität Berlin die Rixdorfer Handschriften aus dem 18./19. Jahrhundert auf ihre linguistischen Merkmale untersucht, las einen der Lebensläufe in Tschechisch, wie es damals auf der Sprachinsel Böhmisch-Rixdorf gesprochen wurde, und anschließend in der deutschen Übersetzung vor.
Archivar Stefan Butt berichte am Ende der Feierstunde von zwei aktuellen Projekten des lebendigen Archivs. Beim Schulprojekt „Kiezfüchse“ lernen Kinder der 1. und 2. Klasse aus der Richard-Grundschule über ein Jahr die vielfältigen Einrichtungen im Kiez kennen und erarbeiten eine Kiezkarte sowie einen Stadtrundgang. „Rixdorfer erzählen“ heißt das neuste Seniorenprojekt, das das Archiv zusammen mit dem Neuköllner Heimatverein durchführt. Der Erzählkreis befragt Anwohner zum Thema „Ankommen in Neukölln – Flucht und Neuanfang in der Nachkriegszeit“. Das Projekt soll mit einer Ausstellung und einer kleinen Publikation abgeschlossen werden. „Wir verstehen uns als ein lebendiges Archiv“, sagte Butt: „Im Rückblick auf die preußische Einwanderungspolitik wollen wir Verständnis fördern, auch für die Flüchtlinge unserer Zeit, und die Möglichkeiten einer positiven Migrationspolitik aufzeigen.“
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