Blick zurück und nach vorne

Heute vor 100 Jahren, am 11. November 1918, endete der Erste Weltkrieg. Anlässlich des Jahrestages luden die Martin-Luther-Gemeinde und der Evangelische Kirchenkreis Neukölln gestern Mittag zur Podiums-diskussion „1918 – 2018 Erinnerungskultur und Blick nach vorn“ in die wegen Sanierungsarbeiten komplett eingerüstete Kirche in der Fuldastraße.

Über das Leben im Umfeld der Martin-Luther-Kirche während des Krieges, der als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gilt, hatte die Neuköllner Gemeinde bereits vor einigen Jahren in einer Geschichtswerk-statt recherchiert, deren Ergebnis die Broschüre „Leben und Umfeld der Martin-Luther-Kirche im 1. Weltkrieg“ war. „Was kann die Evangelische Kirche vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Vergangenheit tun, um Demokratie und Frieden zu fördern, zu bewahren und zu stärken?“, lautete die Ausgangsfrage der Diskussion, an der die Berliner Generalsuperintendentin Ulrike Trautwein, Dr. Dirck Ackermann, Leitender Militärdekan aus dem Ev. Kirchenamt für die Bundeswehr, sowie der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Fritz Felgentreu teilnahmen, der Mitglied des Verteidigungsausschusses und Landesvorsitzender des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge ist. Die Moderation hatte Dr. Christian Nottmeier, der Superintendent des Ev. Kirchenkreises Neukölln, übernommen.

„Nur eine Minderheit der evangelischen Theologen stellte sich auf die Seite der Weimarer Republik“, musste Nottmeier in seiner Einführung konstatieren. Obwohl der evangelischen Kirche in der Weimarer Verfassung Zugeständnisse gemacht worden seien, von denen sie heute noch profitiere, trug sie Mitschuld an der Beseitigung der Demokratie, erklärte der Superintendent.

„Erinnern ist eine elementare biblische Herausforderung“, sagte Generalsuperintendentin Trautwein und forderte: „Wir brauchen eine gute Erinnerungskultur, die im engsten familiären Umkreis anfängt.“ Die Stärkung der eigenen familiären Identität schütze vor schablonenhaftem Denken und Antisemitismus. Zwei Fragen müssten als Lehren aus der Geschichte des Ersten Weltkriegs und aus der Nazizeit immer wieder gestellt werden: „Wie konnte es vor dem Ersten Weltkrieg zur Kriegbegeisterung im Volk – zu einem regelrechten Kriegstaumel – kommen?“ Und: „Wie konnte es geschehen, dass jüdische Nachbarn in der Nazizeit einfach abtransportiert wurden?“

„Geschichte ist, was wir uns erzählen. Wir dürfen uns aber nicht an der Empirie versündigen“, sagte Dr. Fritz Felgentreu und begründete seine These am Beispiel der Dolchstoßlegende, mit der die alten deutschnationalen Eliten des Kaiserreiches von ihrem politischen Versagen ablenkten und die Demokratie der Weimarer Republik diskreditierten. Am Ende habe sich die Wehrmacht in der Nazizeit von einem korrupten Regime für einen Angriffskrieg instrumentalisieren lassen. Auch wenn diese Tatsache für alle, die am Krieg beteiligt waren, aus eigener Erfahrung evident sei, könne sie nicht jeder selbstkritisch eingestehen. „Als Verteidigungspolitiker und evangelischer Christ sage ich: ‚Si vis pacem para bellum – Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor‘“, grenzte sich Felgentreu (r.) allerdings auch von radikal pazifistischen Gedanken ab. „Die Ausübung militärischer Gewalt kann ethisch gerechtfertigt sein“, stimmte Dr. Dirck Ackermann (l.) zu. Er würdigte allerdings auch ausführlich den evangelischen Theologen Walther Nithack-Stahn, der von 1906 bis zu seiner Emeritierung 1929 Pfarrer an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war. Er hielt am sogenannten Sedanstag 1911 eine Predigt für den Völkerfrieden und gehörte in seiner Zeit zu den wenigen überzeugten Pazifisten in der evangelischen Kirche.

=Christian Kölling=

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