„Ich habe 150 Besucher auf den Stufen gezählt“, sagte Jürgen Schulte von der Initiative Hufeisern gegen Rechts zufrieden am Ende der diesjährigen Hommage an Zenzl und Erich Mühsam. „Zu unserer ersten Veranstaltung 2013 waren 30 Gäste gekommen“, setzte er das gestiegene Publikumsinteresse ins Verhältnis. Zum sechsten Mal würdigte die Initiative das prominente, aber unangepasste Paar der Hufeisensiedlung und gedachte am Sonntagnachmitag am Britzer Hufeisenteich des 84. Jahrestages der Ermordung von Erich Mühsam am 10. Juli
1934 im KZ Oranienburg bei Berlin.
Die Sängerin und Schauspielerin Isabel Neuenfeldt präsentierte mit ihrem französischen Akkordeon vertonte Texte des Dichters und Revolutionärs, der neben politischen Schriften auch Balladen, Kabarett-Chansons, Dramen und Essays schrieb. Wolfgang Kröske alias Dr. Seltsam (r.) las aus Rudolf Rockers „Mühsams letzte Tage – Der Leidensweg der Zenzl Mühsam“. Zuvor hatte die Politikwissenschaftlerin und Historikerin Claudia von Gélieu eine gut besuchte, eineinhalbstündige frauen-historische Führung durch die Hufeisensiedlung geleitet.
Erich und seine Frau Kreszentia – genannt: Zenzl – Mühsam kamen 1927 in die nach Ideen von Martin Wagner und Bruno Taut konzipierte Siedlung, die u. a. politisch engagierte, radikale Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, Künstler und Bohemien anzog, wie z. B. den Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker oder die Maler Heinrich Vogeler und Stanislaw Kubicki.
Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand wurde Mühsam, der als Anarchist, Kommunist, Jude, Kriegsgegner sowie als Mitglied der Münchner Arbeiter- und Soldatenräte und Teilnehmer an der Novemberrevolution 1918, in vielfacher Hinsicht ein exponiertes Hassobjekt der Nazis war, am Morgen des 28. Februar 1933 verhaftet. Seine Frau Zenzl musste das Haus in der Hufeisensiedlung verlassen und lebte nach der Verhaftung ihres Ehemanns wahrscheinlich in der Innstraße 4 in Neukölln. 17 Monate lang wurde Mühsam ohne Verurteilung in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern interniert und schwer misshandelt. In der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1934 ermordeten ihn schließlich Angehörige der SS-Leibstandarte Adolf Hitler im KZ Oranienburg und täuschten einen Selbstmord durch Erhängen vor. Zenzl Mühsam floh, noch bevor der Leichnam ihres Mannes auf dem Waldfriedhof in Dahlem begraben wurde, nach Prag und von dort nach Moskau. In der Sowjetunion unter Stalin wurde sie bald wegen Teilnahme an einem trotzkistischen Aufstand interniert und konnte erst 1956 nach Ost-Berlin ausreisen, wo sie 1962 starb.
“Mein Werdegang und meine Lebenstätigkeit wurden bestimmt von dem Widerstand, den ich von Kindheit an den Einflüssen entgegensetzte, die sich mir in Erziehung und Entwicklung im privaten und gesellschaftlichen Leben aufzudrängen suchten”, schrieb Erich Mühsam, der am 6. April 1878 als Sohn eines wohlhabenden Apothekers in Berlin geboren wurde, in seiner Autobiographie. Er verstand sich als “kommunistischer Anarchist”, passte damit aber in keine gängige Schublade, sondern eckte überall an.
Ein Abend für Erich Mühsam mit Lesung, Konzert, Gespräch und Musik unter dem Motto „Das seid ihr Hunde wert!“ findet am 13. Juli ab 18 Uhr im Zukunft Ostkreuz (Laskerstr. 5, Berlin-Friedrichshain) statt; Eintritt: 8/5 Euro.
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