Eine überschaubare, aber unübersehbar schrill-bunte Demonstration zog gestern Nachmittag im Zickzack-Kurs
von der Anzengruber- über die Karl-Marx-Straße und das Rathaus Neukölln durch die Sonnenallee zum Hermannplatz. Um die 300 Personen nahmen nach Angaben der Polizei an ihr teil. „Ich begrüße euch zum ersten Tuntenspaziergang der neuen Zeitrechnung“, empfing Maurus Knowles die Teilnehmer des Protestumzuges, die sich vor seiner queeren Bar LUDWIG versammelt hatten, um gewalttätigen Übergriffen gegen Schwule, Lesben, Transpersonen und alle anderen Menschen entschieden entgegenzutreten, die sich nach heteronormativen Kategorien nicht eindeutig als männlich oder weiblich einordnen lassen wollen. „We‘re here, we‘re queer – we‘re fabulous, don‘t mess with us“, machten die Spaziergänger, an deren
Spitze das Trio Transophonix mit Musik für gute Stimmung sorgte, auf sich aufmerksam. Eine klare Ansage für Zuschauer und Passanten, die die Demonstration mit Zustimmung, Unverständnis oder Neugier beobachteten: „Wir sind hier, wie sind queer – wir sind fabelhaft, legt euch nicht mit uns an.“
Ausgerechnet Neukölln, das Toleranz als Marken-zeichen beansprucht und trotz eines abschreckendes Rufes in der LSBTIQ-Community durchaus als Modell für tolerantes und weltoffenes Zusammenleben gilt, war jüngst mehrfach Tatort homophober Übergriffe. Vor gut zwei Wochen gab es deshalb bereits eine Demonstration mit mehreren Hundert Menschen in der Sonnenallee.
Dass Intoleranz in Neukölln keinen Platz haben darf, machte Bezirksbürgermeister Martin Hikel unmissverständlich deutlich, der zur Demon-stration mit dem Fahrrad gekommen war und die gesamte Strecke mitlief. „Vielfalt muss ganz normal und selbstver-ständlich sein“, forderte er bei seiner Ansprache auf der Rathaustreppe und wandte sich gegen Homophobie mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie gegen Antisemitismus und Rassismus. „Wie kann man nur hassen, dass Menschen sich lieben?“, erinnerte der Bezirksbürgermeister an die Textzeile eines Liedes der Rapperin Sookee.
Dragqueen Gaby Tupper, MISS*ter CSD 2018, erklärte stellvertretend für wohl alle aus der queeren Community Berlins, die nach Neukölln gekommen waren: „Man kann überall Probleme kriegen, wenn man queer ist.“ Knowles stellte über die Täter, deren einzige Gemeinsamkeit ihre eigenen Probleme mit der Männlichkeit seien, lakonisch fest: „Sie sind türkischer Herkunft oder arabisch stämmig. Sie kommen aus Osteuropa oder einfach nur aus Britz-Süd.“ Sängerin Kaey, die regelmäßig im LUDWIG auftritt und im Bezirk wohnt, sagte: „Es geht nicht nur um Neukölln. Es geht um unsere Sichtbarkeit in der ganzen Stadt – in der ganzen Welt!“ Ein Jahr lang solle es nacheinander in jedem Berliner Bezirk monatlich einen Tuntenspaziergang geben, regte Kaey (l., neben Knowles und Tupper) an: „Wir demonstrieren auch gern in London und New York!“
Bereits im Juni 2017 wurde parallel und gemeinsam mit dem Kunst- und Kultur-Festival 48 Stunden Neukölln das Minifestival 48 Tunten Neukölln ausgerufen, zu dem auch ein „Bummel im Fummel“ gehörte. Weil diesmal deutlich mehr Menschen zum demonstrativen gemeinsamen Spaziergang kamen, konnten sie auf der Fahrbahn statt über den Bürgersteig flanieren.
Unter dem Hashtag #Tuntenspaziergang informierten bei Twitter die Neuköllner Abgeordneten Nicola Böcker-Giannini (SPD) und Anja Kofbinger (Grüne) über ihre Teilnahme. Beide Politikerinnen setzen sich in ihren Parteien kontinuierlich für die Belange Homo- und Transsexueller ein. Allgemein wurde beklagt, dass Menschen anderer sexueller Orientierung und Identität heute weniger Verständnis erfahren würden als noch vor einigen Jahren: „Wir kriegen ziemlich viel Gegenwind“ kommentierte eine Demonstratin. Es sei wieder gesellschaftsfähig geworden, Vorbehalte gegen Homosexuelle zu äußern, seitdem die AfD im Bundestag ist. „Die Täter fühlen sich heute bei ihren Übergriffen sicherer als früher.“ Ob in der Statistik der Anstieg homophober Gewalttaten seit 2015 auf eine größere Anzeigebereitschaft der Opfer oder auf eine tatsächliche Zunahmen der Übergriffe zurückzuführen ist, kann allerdings niemand mit letzter Gewissheit sagen. Klar ist allerdings auch, dass jeder Angriff ein Angriff zuviel ist.
Mit einem recht herzlichen Dank an Bezirksbürgermeister Hikel verabschiedete sich Demo-Organisator Maurus Knowles und verriet einen Wunsch, nach den ihn noch niemand in zahlreichen Interviews während der letzten Tage gefragt hat: „Meine Utopie ist, dass Transfrau und Butch sich eines Tages verbünden.“
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