„Man muss den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf“

Mehrere Hundert Menschen nahmen gestern Mittag auf dem Vorplatz des Rathaus Neukölln an einer Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Neukölln steht zusammen – gegen rechte Gewalt und Intole-ranz“ teil. Zu der Kundgebung hatten u. a. das Bündnis Neukölln, die Initiative Hufeisern gegen Rechts, das Aktionsbündnis Rudow, die Interessengemeinschaft Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus sowie Parteien und Gewerkschaften aufgerufen. Anlass der gut einstündigen Protestveranstaltung, auf der ein Dutzend Rednerinnen und Redner ihre Anteilnahme aussprachen: In der Nacht zu Donnerstag wurden in Britz und Rudow die Autos von Heinz-Jürgen Ostermann, Geschäftsführer der Buchhandlung Leporello, und Ferat Ali Kocak, Mitglied im Bezirksvorstand der Neuköllner Linken, in Brand gesteckt.

Ostermanns Buchhandlung in der Rudower Krokusstraße ist in den vergangenen Jahren zu einem Ort demokratischer und literarischer Veranstaltungen geworden. Der Buchhändler wurde nun bereits zum dritten Mal Opfer von mutmaßlich neonazistischen Gewalttätern. Im Dezember 2016 demolierten Unbekannte die Fensterscheibe seiner Leporello-Buchhandlung nach einer AfD-kritischen Lesung. Im Januar 2017 brannte sein vorheriger Pkw bei einem Anschlag völlig aus. Der Linke-Kommunalpolitiker Ferat Kocak ist vor allem im Neuköllner Süden politisch aktiv. Er bezog in der Gropiusstadt während der letzten Wahlkämpfe Position gegen die AfD und andere rechte Gruppierungen.

Die Gefahr einer Anschlagsserie ist in Neukölln virulent seit im August 2016 die Neonazi-Gruppe Freie Kräfte Berlin-Neukölln eine Karte mit „Feinden“ im Internet veröffentlichte. Mehr Unterstützung beim Engagement gegen Rechtsextremismus fordern Initiativen wie Hufeisern gegen Rechts seit langem vergeblich. Auch Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey warnte schon im Februar 2017 vor weiteren Anschlägen.

Petra Pau, seit April 2006 Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestages, erinnerte mit einem Zitat von Erich Kästner daran, dass die Demokraten in der Weimarer Republik die Bedrohung durch den Faschismus viel zu lange unterschätzt hätten, was sich nicht noch einmal wiederholen dürfe. Kästner hatte im Mai 1958 bei einer Rede in Hamburg rückblickend gesagt: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen, später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man muss den rollenden Schneeball zertreten; die Lawine hält keiner mehr auf.“

Justizsenator Dirk Behrendt (2. v. r.), der anschließend sprach, erinnerte an die Einrichtung einer Sonder-ermittlungsgruppe in Berlin und äußerte seine Bestürzung über gewalttätige Auseinandersetzungen wie in Cottbus: „Dort haben wir es mit offenem Straßenterror zu tun.“ Bezirksbürgermeisterin Giffey sicherte Ostermann und Kocak ihre persönliche Solidarität zu und äußerte ihr Mitgefühl für die beiden Opfer der jüngsten Anschläge. „Wir fordern Aufklärung!“, rief sie unter großem Beifall der Kundgebungsteilnehmer aus.

„Das ist erneut ein Anschlag gegen ein solidarisches und vielfältiges Neukölln. Wir brauchen eine Welle der antifaschistischen Solidarität, um die Nazis in die Schranken zu weisen“, sagte Kocak und fügte hinzu: Ich werde jetzt erst recht gegen Rechtsterrorismus kämpfen.“

Jürgen Schulte von der Initiative Hufeisern gegen Rechts konnte um kurz nach halb Eins eine Sonder-durchsage machen. „Die Polizei hat gerade bei Twitter veröffentlicht, dass es wegen der Brandanschläge eine Hausdurchsuchung in der rechten Szene gab“, teilte er den Anwesenden mit. Gegen 13 Uhr gaben Polizei und Staatsanwaltschaft Berlin eine gemeinsame Pressemitteilung heraus: „Gestern Abend wurden vier richterlich angeordnete Durchsuchungsbeschlüsse in Neukölln vollstreckt. Die Ermittlungen richten sich derzeit gegen zwei Tatverdächtige, die der rechten Szene in Neukölln zuzuordnen sind.“ Bei den Durchsuchungen wurden unter anderem Laptops, Speicherkarten, eine Kamera, Handys sowie schriftliche Unterlagen beschlagnahmt. Insgesamt seien knapp 60 Polizeibeamte an dem Einsatz beteiligt gewesen. Die Ermittlungen sowie die Auswertung der Beweismittel dauern an.

=Christian Kölling=

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