„Diese Tat ist an Dummheit, Geschichtsvergessenheit und Menschenverachtung kaum zu überbieten“, verurteilte Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey den Diebstahl von über einem Dutzend Stolpersteinen in der Nacht von Sonntag zu Montag in Neukölln. Die Bürgermeisterin sprach am Donnerstagabend vor der ehemaligen Albrecht-Dürer-Apotheke in der Britzer Buschkrugallee 179 bei einer Gedenkveranstaltung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht.
In der Nacht zum 10. November 1938 zerschlugen Neuköllner Nationalsozialisten die Schaufensterschei-ben sowie die Einrichtung des Geschäftes und verprügelten den jüdischen Apotheker Adolf Mockrauer. Ein Terror-Überfall unter unzähligen, der veranschaulicht wie – beginnend mit der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar und dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 – die jüdische Bevölkerung in Neukölln während des Nationalsozialismus schrittweise und systematisch ausgestoßen, verfolgt und ermordet wurde. Nachdem Adolf Mockrauer Anfang 1939 die Kassenzulassung entzogen und wenig später die pharmazeutische Beschäftigung in der Apotheke verboten worden war, gelang ihm die Flucht nach Chile. Fern von allen sozialen Kontakten verzweifelte er in der Fremde und nahm sich im September 1940 das Leben.
„Als wir die Veranstaltung angemeldet haben, haben wir mit weniger Teilnehmern gerechnet“, erklärte Jürgen Schulte (l.) von der Anwohner*inneninitiative Hufeisern gegen Rechts. Nach den Diebstählen der Stolpersteine in Britz habe die Initiative viele Solidaritätsschreiben erhalten. „Der Raub der Stolpersteine hat deutlich gemacht, wie aktuell der Gedenktag an die Pogromnacht vom 9. November 1938 ist“, sagte Schulte. Zur Gedenkkundgebung waren über 100 Personen gekommen, darunter Bezirksstadtrat Jan-Christopher Rämer, der Bundestagsabgeordnete Dr. Fritz Felgentreu, die Landesparlamentarierinnen Karin Korte und Derya Çaglar (alle SPD) sowie zahlreiche Bezirksverordnete, darunter auch Linke und Grüne.
Adolf Mockrauer war nur einer der jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner in der Großsiedlung Britz, deren Lebensgrundlage von den Nationalsozialisten zerstört und die aus der Siedlung vertrieben wurden. Rund 80 Familien jüdischer Herkunft und 130 Künstler lebten vor 1933 in der Großsiedlung Britz. 18 Bewohner wurden Opfer des Regimes, andere zogen weg, bevor Schlimmeres passieren konnte. Parallel dazu nahm der Zuzug von Nazis verheerende Ausmaße an: Waren es 1928 noch 128 NSDAP-Mitglieder, die in der Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung wohnten, hatte sich ihre Zahl 12 Jahre später fast verzehnfacht. Auch Adolf Eichmann, einer der Hauptorga-nisatoren des Holocaust, gehörte drei Jahre lang zu den Mietern.
Wie Bezirksbürgermeisterin Giffey, die demonstrativ einen neuen Stolperstein bereits mitgebracht hatte, in ihrer Rede weiter erklärte, seien bereits so viele Spendenzusagen eingegangen, dass die gestohlene Miniatur-Mahnmale problemlos ersetzt werden könnten. „Die überschüssigen Gelder werden in das Stolpersteinprojekt fließen. Am Ende haben wir mehr Stolpersteine als bisher in Neukölln“, versprach Giffey und erhielt dafür spontan lauten Applaus. „Wir begrüßen die auf der Erinnerungskundgebung in der Hufeisensiedlung geäußerten Absichten der Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu verstärken“, teilte am Freitag das Bündnis Neukölln in einer Presse-Erklärung mit. „Die Spendenaktion der Initiative Hufeisern gegen Rechts für zusätzliche Stolpersteine erachten wir als wichtiges Signal an alle, die mit Schändungen, Brandanschlägen und Diffamierungen die Grundfeste unserer Demokratie angreifen wollen“, schrieb das Bündnis weiter und bot organisatorische sowie finanzielle Unterstützung an.
Zum Abschluss der Kundgebung vom Donnerstag sprach Chaja Boebel, Jüdin und Bildungsreferentin der IG Metall, die u. a. am Buch „Vom Erinnern an den Anfang“ mitarbeitete, das vom gewerkschaftlichen Wiederaufbau in der jungen Bundesrepublik und in der DDR nach dem nationalsozialistischen Terror handelt. Boebel erinnerte daran, dass in der Nacht vom 5. zum 6. November auch der erst im September für Wienand Kaasch verlegte Gedenkstein gestohlen wurde und kritisierte, dass alle Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr – angefangen bei der Veranstaltung zum 72. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Januar – nur unter Polizeischutz stattfinden konnten. Eine bedenkliche Entwicklung, die darauf hindeute, dass die Bedrohung durch Neonazis in den letzten Jahren stärker und gefährlicher geworden sei. Die Polizei bat am Donnerstagabend auf Fahndungsplakaten, die an den Tatorten aushingen, um sachdienliche Hinweise zur
Aufklärung der Stolperstein-Diebstähle.
Die Kundgebung vor der ehemaligen Albrecht-Dürer-Apotheke des Juden Adolf Mockrauer endete mit einem Rundgang, der zu den früheren Wohnorten von Heinrich Uetzfeld in der Parchimer Allee 7 und Georg Obst in der Gielowerstraße 28b führte, sowie zu allen anderen Orten in der Hufeisensiedlung, an denen Gedenkstätten zerstört wurden.
Für die nächste Sitzung der Bezirksverordneten-versammlung am kommenden Mittwoch haben SPD, CDU, Grüne, Linke und die Gruppe der FDP eine gemeinsame Entschließung vorbereitet, in der die Zerstörung und der Diebstahl von Stolpersteinen verurteilt wird (Drucksache 0385/XX ). Zusätzlich wurde ein gemeinsamer überparteilicher Antrag vorgelegt (Drucksache 0387/XX), der fordert, in Absprache mit dem Künstler Gunter Demnig die in Neukölln zerstörten und gestohlenen Stolpersteine so schnell wie möglich zu ersetzen.
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