Abschied von Berlins Pionierin für Alphabetisierung

Mit über 50 Bündnispartnern trägt das Alpha-Bündnis Neukölln die Themen Alphabetisierung und Grundbildung in die Öffent-lichkeit, denn noch immer ist An-Alphabetismus ein großes Tabu-Thema. Schätzungsweise 28.000 Menschen in Neukölln haben – obwohl sie Deutsch sprechen – Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben. Sie können nicht gut genug lesen und schreiben, um am gesellschaftlichen Leben in angemessener Weise teilzuhaben und im Beruf zurecht zu kommen. Viele besitzen zudem keine ausreichende Grundbildung. Ihnen fehlen grundlegende Kenntnisse in Mathematik, PC-Kompetenz und Arbeits-techniken.

Unter dem Motto „Grundbildung – Wir reden darüber“ stellten sich deshalb am vergangenen Mittwochnachmittag einige Partner des Alpha-Bündnis Neukölln auf dem Alfred-Scholz-Platz vor. Ziel der Aktion war es, mehr Betroffene auf Lernangebote speziell für Erwachsene aufmerksam zu machen. Um die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, wurden zudem Passantinnen und Passanten direkt angesprochen.

Zwei Tage später, am 8. September, dem Welttag der Alphabetisierung luden das Lernhaus der Volks-hochschule Neukölln sowie der Verein Lesen und Schreiben jeweils zum Tag der offenen Tür in ihre Einrichtungen ein. Bernd Müller (2. v. r.), Leiter der VHS Neukölln, konnte im Lernhaus in der Werbellinstraße 77 Dr. Ulrich Raiser (r.), den Leiter des Referats “Erwachsenen- und Grundbildung, Lebenslanges Lernen, außerschulische Bildung” aus der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, begrüßen. „Lesen und schreiben zu können, ist Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben“, erinnerte Müller die Anwesenden und wies auf die aktuellen Angebote der Volkshochschule hin.

Zum traditionellen Empfang des Lesen und Schreiben e. V. war Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey (r.) gekommen, um ein Grußwort zu sprechen. „Ich bin schon lange Zeit eine Freundin von ‚Lesen und Schreiben‘“, sagte Giffey, die den Verein bereits während ihrer Arbeit als Europabeauftragte in Neukölln kennen lernte. „Hier wird den Menschen wirklich geholfen. Besonders beeindruckt bin ich vom Credo ihrer Arbeit. ‚Es ist nie zu spät! Viele können es schaffen!“, sagte Giffey zur Leiterin der Einrichtung Urda Thiessen (l.).

Die Bezirksbürgermeisterin erinnerte zudem an Marie-Luise Oswald, die am 24. August nach schwerer Krankheit in Berlin verstorben ist. Einen großen Teil ihres Lebens widmete sie der Arbeit mit funktionalen Analphabeten und setzte sich für ihre Belange ein. Als Pionierin unterrichtete sie Betroffene an der Volkshochschule Tiergarten und gründete bereits 1977 gemeinsam mit anderen Interessierten den ersten Alphabetisierungsverein, den Arbeitskreis Orientie-rungs- und Bildungshilfe e. V. (AOB). 1983 war Marie-Luise Oswald Mitgründerin des Lesen und Schreiben e.V., den sie bis 2008 leitete. Sie motivierte Betroffene, mit ihren Lebensgeschichten an die Öffentlichkeit zu gehen und sich für die Enttabuisierung des Themas Analphabetismus in Deutschland einzusetzen. Marie-Luise Oswald erhielt 2007 die Neuköllner Ehrennadel für ihr herausragendes Engagement im Bezirk Neukölln. 2008 wurde sie vom Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung e. V. zur „Botschafterin für Alphabetisierung“ ausgezeichnet.

=Christian Kölling=

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