Wem die Erststimme und welcher Partei die Zweitstimme geben – für die Entscheidung sind noch vier Monate Zeit

Mit seinem Mehrparteiengespräch, das traditionell vor Wahlen stattfindet, war der Britzer Bürgerverein diesmal etwas früh dran. Der Grund dafür sei, dass der Verein zum 31. Juli aus seinen Räumen am Rande der Hufeisensiedlung ausziehen müsse und es deshalb später nicht passe, erklärte Jürgen Rose. Auf den Nachteil wies der Vereinsvorsitzende auch gleich hin: „Die Parteien haben ihre Programme jetzt noch nicht fertig.“

Nominiert sind jedoch bereits die Kandidaten, die per Wählervotum am 24. September über die Erststimme oder aber über die Landesliste in den Bundestag einziehen wollen. Mit Judith Benda, Dr. Fritz Felgentreu, Dr. Susanna Kahlefeld und Christina Schwarzer (v. l. n. r.) waren vier Neuköllner Wahlkreisabgeordnete der Einladung gefolgt, sich beim Britzer Bürgerverein den Fragen potenzieller Wähler zu stellen. Marcus Jensen, den Direktkandidaten der FDP im Bezirk, habe man auch zur Veranstaltung gebeten, allerdings keine Reaktion darauf erhalten, gab Rose bekannt.

Wen hat zur Wahl, wer in vier Monaten in Neukölln seinen Stimmzettel abgibt und die Kreuze hinter eine Partei bzw. deren Mandatsträger setzen will, die bereits im Bundestag vertreten ist? Und für welche Belange, die bezirksrelevant sind, wollen die Kandidaten sich ein-setzen?

Einzige des Quartetts, die im politischen Neukölln bisher nicht in Erscheinung getreten ist, ist Judith Benda (l.). Sie sei 1987 im Bezirk zur Welt gekommen und lebe seit sieben Jahren auch wieder hier, stellte sich die Kandidatin der LINKE vor, die das Verbindungsbüro Brüssel der Bundestagsfraktion der Partei leitet. „Politisiert wurde ich in meiner Jugend durch Rechts-radikalismus-Themen“, sagt sie.

Bei Dr. Susanna Kahlefeld (l.), die acht Jahre lang der GRÜNE-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung angehörte, bevor sie 2011 ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde, lagen die Interessen anders. „Ich war immer öko und hab früher Kröten über die Straße getragen“, erzählt die 53-Jährige, die sich zudem als „Feministin bis in die Knochen“ bezeichnet. Neben Umweltaspekten sind es inzwischen aber die Fachgebiete Integration, Religion und Bürgerbeteiligung, die die promovierte Philosophin politisch umtreiben, die vor ihrer Karriere als Berufspolitikerin in Mütterkursen Deutsch unterrichtete.

Auf schon vier Jahre Politik auf Bundesebene kann Dr. Fritz Felgentreu (l.) verweisen. 2013 zog er als Direktkandidat der Neuköllner SPD in den Bundestag ein, wo der habilitierte Philologe, der Vater von drei Kindern zwischen Grundschul- und Studenten-alter ist, vorrangig Familienpolitik beackert und außerdem Mitglied des Verteidigungsausschusses ist.

Die Zuständigkeiten von Christina Schwarzer (r.), die 2013 über die CDU-Landesliste in den Bundestag kam, liegen hingegen in den Bereichen Kinderschutz, Digitale Agenda und bürgerschaftliches Engagement. Wie Benda ist auch die 40-Jährige eine gebürtige Neuköllnerin, die zurückge-zogen ist: „Seit 14 Monaten wohne ich wieder hier, in Rudow.“

Welche Themen im Bezirk bewegen, können also alle vier vor ihrer eigenen Haustür beobachten. Ob die Schwerpunkte der Parteien auf der Jagd nach Stimmen richtig gesetzt wurden und authentisch bzw. realisierbar erscheinen, entscheiden die Wähler.

Für soziale Gerechtigkeit, eine antirassistische Politik, die Forderungen des Baus von Sozialwohnungen mit einer Mietdeckelung von 8,50 Euro pro Quadratmeter sowie der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde stehe DIE LINKE, führte Judith Benda auf: „Wir wollen ein gutes Leben für alle, und wir wollen, dass Vermögende stärker zur Kasse gebeten werden.“ Das sei ein Alleinstellungsmerkmal der Partei.

Dem wollte Fritz Felgentreu aller-dings nicht zustimmen: „Starke Schultern sollen mehr tragen als schwache, deshalb bin ich für Gerechtigkeit über das Steuersystem.“ Von den von Finanzminister Wolfgang Schäuble geplanten Steuergeschenken halte er über-haupt nichts, denn „der Staat braucht Geld, weil vieles nicht funktioniert“. Die Mietpreisbremse beispielsweise. Sie müsse dringend nachgeschärft und der Wohnungsbau forciert werden, um den Markt zu entspannen. Auch im Gesundheits-sektor sowie im Kita- und Schulsystem liege einiges im Argen, kritisierte der 48-Jährige, der bundesweit gebührenfreie Kitas befürwortet und meint, dass die härtesten Kieze die besten Kitas und Schulen brauchen. „Vor allem“, so Felgentreu auf die Bundespolitik überleitend, „tritt die SPD aber bei der Wahl mit dem Ziel an, die Europäische Union zu stabilisieren und zu retten.“

Die Verbindung von Sozialem und Ökologischem steht hingegen im Fokus der GRÜNEN. „Die zentrale Frage ist: Wie wollen wir leben?“, sagte Susanna Kahlefeld. Mehrgenerationenhäuser müssen gefördert, der öffentliche Personennahverkehr verbessert und der Verbraucherschutz gestärkt werden, lauten die Intentionen der Partei. Von letzterem würden auch die Neuköllner profitieren: „Seit vielen Jahren haben wir an kita karlsgartenstraße, neukölln, kitafinder neuköllnMessstationen im Bezirk die bundesweit höchsten Feinstaubwerte, was eine ungeheure gesundheitliche Belastung für die Anwohner ist.“

Die CDU setze auf Kontinuität, rundete Christina Schwarzer die Reihe der als Entscheidungshilfe gedachten Plädoyers ab: „Ich habe Merkels Politik in den letzten Jahren immer verteidigt und schätze ihre Besonnenheit.“ Gleichwohl gab sie zu, dass es bei der Zahl der Kitaplätze und Erzieher ebenso noch Verbesserungsbedarf gibt wie bei der Politik an sich. „Sie muss wieder anfassbar und erlebbar sein“, wünschte sich die Bundestags-abgeordnete.

Was aber wünschten sich die Wähler im gut gefüllten Versammlungsraum des Britzer Bürgervereins? Insbesondere Gerechtigkeit: bei der Entlohnung von Polizisten und Lehrern in Berlin, bei der Mittelver-teilung im sozialen Bereich, beim Gesundheitswesen. Außerdem müsse unbedingt etwas gegen die Altersarmut und gegen „rechtsextreme Umtriebe im Süden Neuköllns“ getan werden.

„Für Rechtsextremismus gibt es keine einfache Lösung“, befürchtet Felgentreu. Das Problem sei, dass „die Union ihren rechten Flügel komplett abgesprengt“ und vor zwei Jahren mit Kontrollverlust auf den Flüchtlingszustrom reagiert habe, das spiele nun der AfD in die Hände. „In dem Maß, in dem die AfD vorgibt, für die Bevölkerung zu sprechen, müssen wir jetzt unsere Demokratie ver-teidigen“, ergänzte Kahlefeld.

Die Reaktionen auf andere bezirksrelevante Anliegen der Wähler blieben zumeist so unkonkret wie verständnisvoll. Das seien doch alles nur Absichts- und Willenserklä-rungen, warf ein Mann aus dem Publikum der Politikerriege vor. Handfestes konnte er immerhin zur – durch langjährige Sparmaßnahmen prekären – Situation im öffentlichen Dienst von der Kandidatin der Grünen erfahren, die als Mitglied des Abgeordnetenhauses als Einzige in die Landespolitik involviert ist: „Der nächste Haushalt wird klasse aussehen, was Personal betrifft, weil Berlin nicht mehr so arm wie Griechenland ist. Nur haben wir jetzt das Problem, dass Personal schwer zu finden ist.“

Sie möge das Wort Wahlversprechen nicht, griff Christina Schwarzer den Vorwurf auf, räumte ein, dass „zu viele Politiker durchaus zu viel versprechen“ und erklärte, was auch künftig bei Regierungsbildungen Usus sein wird: „In einer Koalition muss wie in einer guten Ehe ein Vertrag ausgehandelt werden.“

Mitten in den Sommerferien, am 14. August, wird in Berlin mit dem Versand der Wahlunterlagen begonnen. Am 3. September sollten alle Wahlbenachrichtigungen zugestellt sein; drei Wochen später öffnen dann die Wahllokale, für die schon jetzt Wahlhelfer gesucht werden – insgesamt über 20.000.

=ensa=

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