Rund 550 vorhanden, etwa 800 nötig: Lebensgefährliches Defizit bei Schlafplätzen für Wohnungslose in Berlin

u-bahn-station-hermannstrasse_neukoellnSchnee, Bodenfrost, Minusgrade, gefährliches Glatteis auf den Straßen, warnte der Deutsche Wetterdienst am vergangenen Wochenende. Besonders ernst wird es im Januar für Wohnungslose. Sinkt das Thermo-meter unter Null, droht beim Übernachten im Freien der Erfrierungstod. Allein in Berlin leben 3.000 bis 6.000 Wohnungslose – so schätzen Experten – auf der Straße. Eine genaue Statistik gibt es nicht.

„Wir scheuen keinen Aufwand, damit die, die wenig haben, auch etwas bekommen“, versprach der Neuköllner Gesundheitsstadtrat Falko Liecke am Sonnabend. Er war zur 2. Spendenaktion für Obdach-lose als ein Gast von vielen vor die Bahnhofsmission am Zoo in der Charlottenburger Jebensstraße auf die Bühne gekommen. An rund zwei Dutzend Ständen, an denen aktion-helfen-macht-stark_foto-mk-koenigs-fotografiedichtes Gedränge herrschte, konnten sich Bedürftige dank der von Andreas Marquardt (M.) initiierten Aktion „Helfen macht stark“ mit Winterkleidung, Decken und Lebensmitteln versorgen. Neben Sachspenden gab es gratis warme Suppe und Bratwürste sowie heißen Tee. Schlagermusik aus Lautsprecherboxen, Gespräche mit Leidensgenossen und eine Gesangsshow auf der Bühne waren zusätzlich Balsam kaeltebus_header_mit_telefonnummer_c1f3d55790für die Seele.

Wie sah es aber abseits, in Neukölln, an diesem kalten Samstagabend aus? Für Obdachlose arbeitet seit 1989 stadtweit die Berliner Kältehilfe, die auch den Kältebus betreibt. In Neukölln gibt es drei Nachtcafés mit Notübernachtung, die jeden Freitag zweimal 25 sowie sonnabends einmal 70 Schlafplätze bieten. Die Einrichtungen werden seit Jahren ab Anfang November bis Ende März von den nördlichen Kirchengemeinden St. Richard, Martin-Luther und Fürbitt-Melanchthon unterhalten. Außerdem sind eine Tee- und Wärme-stube als Tagesstätte in der Weisestraße frauen-nachtcafe-neukoellnsowie ein Frauennachtcafé ohne Übernachtungsmöglichkeit in der Mareschstraße eingerichtet. Die Projekte erhalten Zuwen-dungen des Landes Berlin bzw. des Bezirksamtes Neukölln. Zur Finanzierung kommen Mittel der Liga der Wohlfahrts-verbände und Spenden sowie unbezahlte ehrenamtliche ziemer_cetin_nachtcafe-fuerbitt-melanchthon-gemeinde_neukoellnArbeit hinzu.

„Wir haben in den Räumen um den Kirchraum freie Schlafplatzwahl. Bis zu 70 Isomatten und Decken können genutzt werden“, berichteten Catrin Cetin (r.) und Tristan Ziemer (l.) am Samstagabend in der Notübernachtung der Fürbitt-Melanchthon-Gemeinde. Über 30 Menschen warteten schon, als um halb 10 die Türen der Kirche in der Kranoldstraße geöffnet wurden. Das Abendbrot war zusammen mit zwei weiteren Helferinnen bereits vorbereitet worden. Die Übernachtungsgäste holten sich Brote und Getränke an ihre Tische. Die ersten Isomatten, Decken und Schlafsäcke wurden auf dem Boden ausgebreitet und das wenige Gepäck in die Ecken gestellt. Seit fast zwei Jahrzehnten besteht das Nachtcafé der evangelischen Kirche bereits. „Bei uns gibt es auch Frühstück“, sagte Cetin. Danach müssen die Obdachlosen die Notübernachtung allerdings verlassen. „Ohne die Kältehilfe würde es viel mehr Tote obdachlosen-nachtlager_philipp-melanchthon-kirche neuköllngeben“, unterstrich die Helferin jedoch den Wert ihrer Arbeit.

In der Wintersaison 2016/2017 werden in ganz Berlin pro Nacht durchschnittlich 550 Schlafplätze für wohnungslose Menschen angeboten. Caritas und Diakonie halten dem-gegenüber 800 Plätze für erforderlich. In der vergangenen Saison waren durchschnittlich 760 Schlafplätze belegt. Die Auslastung der Notübernachtungen stieg von knapp 79 Prozent im November 2015 auf über 96 Prozent im Februar und März 2016. In der Vergangenheit lag die Auslastung der Notübernachtungen teils deutlich über 100 Prozent; 2011/2012 z. B. bei 116,5 Prozent. Besonders groß sei der Bedarf an Schlafplätzen nach Expertenmeinung in den Innenstadtbezirken Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf sowie Friedrichshain-Kreuzberg. In ihrer letzten Saisonauswertung hält die Trägerorganisation GeBeWo, Soziale Dienste fest, dass der Frauenanteil mit 13,5 Prozent bei Übernachtungen nur gering sei. Gendergerechte Angebote hätten bei Frauen generell eine höhere Akzeptanz als männerdominierte unspezifische Angebote: „Je spezifischer das Angebot, desto höher die Akzeptanz bei Frauen“, laute obdachlosenheim teupe-eingang_neuköllndie Faustformel der Angebotsplanung.

In der Neuköllner Zählgemeinschaftsvereinbarung von SPD und Grünen wird als gemeinsames bezirks-politisches Ziel unter Punkt 115 die Schaffung neuer Unterbringungsmöglichkeiten für Unterbringungen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungs-gesetz (ASOG) gefordert. „An den Bemühungen zur Schaffung einer Unterkunft für obdachlose psychisch kranke Menschen wird festgehalten“, heißt es ergänzend in der Vereinbarung, die eine Art Koalitionsvereinbarung auf kommunaler Ebene ist: Am kommenden Freitag wird eine zusätzliche Kältehilfestation in der Teupitzer Straße eröffnet, wie die Kubus gGmbH kürzlich mitteilte.

=Christian Kölling=

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