Im imposanten, 20 Meter hohen Kesselhaus der ehemaligen Kindl-Brauerei, die am Rand des Neuköllner Rollbergviertels liegt, zeigt der Künstler David Claerbout bereits seit September seine Video-Arbeit Olympia. Er hat das Berliner Olympia-stadion – Austragungsort der Olympischen Spiele 1936 – digital aufwändig nachempfunden, um es nun in den kommenden 1.000 Jahren virtuell zerfallen zu lassen. Neben dem Kesselhaus hat das Kindl-Zentrum für zeitgenössische Kunst jetzt das gesamte ehemalige Brauerei-Gebäude mit zusätzlich drei Ausstellungs-etagen im Maschinen-haus und dem Café im Sudhaus eröffnet.
Eine Pressevorbesichtigung fand am Freitag statt. Andreas Fiedler, Künstlerischer Direktor des Zentrums, und Co-Kuratorin Valeska Schneider, führten durch die Gruppenausstellung „How Long Is Now?“ und stellten die Einzelausstellung „Inhalt“ mit Werken von Eberhard Havekost vor. Am Sonnabend begrüßten die Gründer des Kunstzentrums, das Ehepaar Salome Grisard und Burkhard Varnholt, die Öffentlichkeit im früheren Sudhaus der Brauerei mit seinen sechs riesigen Kupferkesseln. Die Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Dr. Franziska Giffey war für die Eröffnungsrede zusammen mit den Bezirksstadträten Jan-Christopher Rämer und Bernd Szczepanski gekommen. Der regelmäßige Ausstellungsbetrieb ist damit nach umfangreicher Sanierung in den außergewöhnlichen Räumen des Gebäudes vollständig aufgenommen worden. Ein Biergarten unter Platanen soll auf dem Vorplatz der
ehemaligen Brauerei im nächsten Jahr entstehen.
„Das Gebäude ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Ort – architektonisch, gesellschaftlich und städte-baulich“, erklärten Grisard (r.) und Varnholt (l.): „Wir haben uns sofort in den Bau verliebt.“ Dem Ehepaar sei damals spontan ein Zitat von Bernhard Shaw eingefallen „Was wir brauchen sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben“. Der denkmalgeschützte Klinkerbau, der zwischen 1926 und 1930 in Anlehnung an den deutschen Expressionismus errichtet wurde, soll Ort für eine Kunsthalle werden, sagten die Gründer: „Hier entsteht weder ein Sammler-Museum noch eine Galerie – von beidem besitzt Berlin einige der besten in der Welt.
Vielmehr werden hier – ganz im Geiste einer Kunsthalle-Ausstellungen zeitgenössischer Kunst mit internationalem Anspruch kuratiert.“
Bezirksbürgermeisterin Giffey erinnerte daran, dass 2005 ungewiss war, wie das alte Brauerei Gelände weiter genutzt werde könnte. Im Jahr 2011 erwarb das deutsch-schweizerische Ehepaar Burkhard Varnholt und Salom Grisard das Gebäude-Ensemble mit dem Ziel, es für die zeitgenössische Kulturproduktion nutzbar zu machen. Giffey äußerte sich zur Eröffnung der internationalen Kunsthalle regelrecht begeistert: „Neukölln ist mehr als die Summe seiner Probleme. Es gibt an diesem Ort jetzt wirklich hohe Kunst. Es geht aufwärts. Dieser Bezirk wird sich entwickeln. Ich bin mir sehr, sehr sicher.“
Mit der künstlerischen Leitung des Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst ist der Schweizer Kurator und Kunstkritiker Andreas Fiedler betraut. „Der Maler Eberhard Havekost zählt zu den wichtigsten deutschen Künstlern seiner Generation“, erklärte Fiedler am Freitag beim Rundgang durch Einzelausstellung „Inhalte“. „Oft sind es gefundene Bilder, ab und zu auch eigene Fotografien, die für Havekost zum Ausgangspunkt seiner Malerei werden“, sagte der Kurator. Die Herkunft dieser Bilder sei sehr unterschiedlich und reiche von der Werbeanzeige aus einem Modemagazin, die die Vorlage des
Werkes Ocean war, bis zu einem Bildband, den der Künstler in seiner Kindheit geschenkt bekam und aus dem er die Anregungen für die Werke Homo Erectus Erectus und Saurier nahm. „Mit seiner Malerei macht Eberhard Havekost deutlich, wie die mechanische Reproduktion der Realität, die uns als visuelle Erlebnisform täglich begegnet, deren bewusste, sinnliche Erfassung überflüssig zu machen droht“, kommentierte der
Kunstkritiker Andreas Fiedler. In angepasster Form wird die Ausstellung „Inhalt“ ab April 2017 in der Galerie Rudolfinum in Prag zu sehen sein.
Mit seiner ersten thematischen Gruppenausstellung „How Long Is Now?“, die Valeska Schneider kuratierte, widmet sich das Kunstzentrum in Neukölln dem Thema Zeitgenossenschaft. „Was bedeutet es, Zeitgenosse zu sein?“, fragte Schneider. Folge man den gängigen lexikalischen Definitionen heiße es schlicht, sich mit anderen in der selben Zeit zu befinden, die selbe Zeit zu teilen. Zudem habe der Begriff eine politische Dimension: „Die soziale und im ursprünglichen Sinne politische Implikation liegt schon im Begriff des Genossen. Der Begriff Zeitgenossenschaft fordert dazu auf, sich selbst in der Gegenwart zu verorten, Erfahrungen der Vergangenheit einzubeziehen und eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln“, erläuterte Valeska Schneider weiter. Die thematische Ausstellung im Erdgeschoss des früheren Maschinenhauses gliedert sich in acht Gruppen, die die Zeitgenossenschaft auf unterschiedliche Weise sichtbar werden lassen und ihre Bedeutung für die aktuelle künstlerische Produktion hinterfragen. Philip Akkerman, der in Den Haag wohnt, malt seit über 30 Jahren ausschließlich Selbstportraits. Die für die Ausstellung zusammengestellten Porträts sind in den letzten zehn Jahren entstanden und belegen eine ausgeprägte Heterogenität seiner Arbeit. Anetta Mona Chisa und Lucia Tkacova, die in Prag leben, fertigten mehr als fünfhundert handbemalte Objekte aus Porzellan, die Pflastersteinen täuschend ähnlich sehen. Erst wenn die Ausstellungsbesucher der Verlockung nachgeben und die über den Boden verteilten Objekte anfassen, bemerken sie die Täuschung. Michael Rackowitz, der 1973 in New York geboren wurde und heute in Chicago lebt, hat auf einem großen archäologischen Tisch Artefakte aus Pappe installiert. Hintergrund seiner Arbeit: Während der Invasion in den Irak im Jahr 2003 wurde das ungeschützte Nationalmuseum in Bagdad geplündert. Ungefähr 15.000 Objekte der hochkarätigen Sammlung verschwanden dabei. Seit 2007 bildet Rakowitz nun die vermissten Kostbarkeiten nach.
Noch bis zum 28. Mai 2017 wird im Kesselhaus vom KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst (Am Sudhaus 2) die Installation „Olympia“ von David Claerbout gezeigt.
Die Gruppenausstellung „How Long Is Now?“ mit Werken von Philip Akkerman, Anetta Mona Chisa & Lucia Tkacova, Ceal Floyer, Andrea Geyer, Jeppe Hein, Uriel Orlow, Manfred Pernice und Michael Rakowitz ist bis zum 19. Februar 2017 im Maschinenhaus M0 zu sehen.
Ebenfalls bis zum 19. Februar 2017 zeigt Eberhard Havekost im Maschi-nenhaus M1 und M2 seine Ausstellung „Inhalt“.
=Christian Kölling=
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