Mit einem gelungenen Auftakt begann gestern Vormittag im Museum Neukölln das begleitende Veranstaltungsprogramm zur Ausstellung „Die Magie des Lesens“: Prof. Dr. Aleida Assmann, eremitierte Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, erläuterte den zahlreich erschienenen Gästen in ihrem Vortrag „Lesen als Erfahrung“, was es eigentlich genau mit der Magie des Buches auf sich hat. „Ich bin ja eine professionelle Leserin“, begrüßte die renommierte Literaturwissenschaftlerin ihre Zuhörinnen und Zuhörer im Gutshof Britz, um ihnen anschließend den unscheinbaren Vorgang des Lesens als spektakuläres Wunder detailliert vorzustellen. „Ein klassisches Beispiel für den magischen Gebrauch des Buches finden wir in Shakespeares Drama ‚Der Sturm'“, berichtete sie aus ihrer Forschungs-lektüre.
„Es schildert die Geschichte des weisen Prospero, der aus seinem Reich vertrieben wurde. Caliban, einer seiner Untergebenen, plant einen Anschlag auf seinen verhassten Herrn und hat es dabei vor allem auf dessen Bücher abgesehen.“ Ebenso wie das Buch besäßen auch die Buchstaben, die Bibliothek sowie die Lektüre an sich ihre eigene Magie. „Im Prozess des Lesens verwandeln wir unsinnliche Buchstaben aus Druckerschwärze auf weißem Papier in sinnliche Bilder der Imagination“, sagte Assmann (l.). Die Magie der Bibliothek bestehe darin, dass man sich hier mit Toten unterhalten könne. „Jede Büchersammlung ermöglicht eine Kommunikation über die Jahrhunderte
hinweg und erlaubt den Eintritt in ein über die Zeiten fortgesetztes ‚Geistergespräch'“, so Assmann.
Museumsleiter Dr. Udo Gößwald, der das anschließende Gespräch mit dem Publikum moderierte, dankte Aleida Assmann für ihre Einführung „in die gesamte Bandbreite des Buches und des Lesens“. Ein zentrales Thema der Diskussion war die sich wandelnde Bedeutung des Buches in der Welt der neuen digitalen Medien. „Früher gab es ja nur Texte“, erinnerte sich Prof. Dr. Assmann an die Literaturwissenschaft der 1960er Jahre. „In seiner Materialität wird das Buch erst jetzt richtig neu entdeckt und erforscht“, beschrieb sie den gegenwärtigen Sinneswandel der Kunst- und Literaturwissenschaft. Für Museumsleiter Gößwald war Assmanns Beobachtung eine Bestätigung des Ausstellungskonzeptes. Das Museum doku-mentiert in seiner Ausstellung die Leseerfahrungen von 24 Menschen aus Neukölln und präsentiert jeweils in einer eigenen Vitrine pro Person fünf Bücher, die für sie eine besondere Bedeutung haben.
Eine der Leihgeberinnen, die gelernte Buchhändlerin Christa Emde, war zum Auftakt der Vortragsreihe als Zuhörerin gekommen. Das Haus ihrer Großeltern war ein Bücherparadies. Zu ihrem zweiten Geburtstag bekam sie ihr erstes Buch: ein handgemaltes Kinderbuch, das ihre künstlerisch begabte Großmutter selbst gestaltet hatte. Auch eine Ausgabe von Goethes Faust in einem schönen goldfarbenen Saffian-ledereinband gehört zu ihren Lieblingsbüchern. Mit 16 oder 17 Jahre hatte Christa Emdes Mutter ihr ein Buch von Vern Sneider mit dem Titel „Die Geishas des Captain Fisby“ empfohlen. Ein Buch, in dem Captain Fisby nach dem Zweiten Weltkrieg vergeblich versucht, den Japanern die westliche Kultur und die Demokratie nahezubringen. Ihre Lieblingsbücher seien eng mit der Familiengeschichte verbunden und in allen Bücher, die Emde dem Museum zur Verfügung stellte, spielten gesellschaftliche Umbrüche eine bedeutende Rolle, vermerkte Udo Gößwald in dem Essay „Eine Welt voller Bücher“, das im Katalog zur Ausstellung abgedruckt ist.
Der nächste Vortrag findet am 16. Oktober um 11.30 Uhr im Museum Neukölln statt und heißt „Fahrenheit 451“. Dr. Patrick Helber spricht über eine Bücherverbrennung auf dem Tempelhofer Feld: Der Neuköllner SPD-Stadtrat Karl Schneider ließ am 18. Dezember 1921 tausende von sogenannten Schundheften auf dem Tempelhofer Feld verbrennen. Warum unternahm er diesen radikalen Schritt? Was verbarg sich hinter der dämonisierten Literatur? Und war die Maßnahme ein Erfolg?, lauten Helbers Fragen, die er in seinem Vortrag beantworten wird.
Weitere Themen der Vortragsreihe sind – jeweils am Sonntag um 11.30 Uhr – „Lesestrategien in der multikulturellen Gesellschaft“ (30. Oktober) und „Lesen im proletarischen Rixdorf“ (20. November). Ihren Abschluss findet die Reihe am Internationalen Tag der Menschenrechte (10. Dezember) um 19 Uhr mit dem Vortrag „Writers in prison – Zur Situation inhaftierter Autoren“ von Prof. Dr. Sascha Feuchert, PEN Deutschland.
=Christian Kölling=
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